Aus: "Motteck" Stadtzeitung für Hamm, Nr. 3, März 1979
Parlamentswahlen? – Nein danke!
Zahlreiche Menschen, als Betroffene in Bürgerinitiativen unabhängig von Parteien und Verbänden organisiert, versuchen Missstände in den Bereichen Umweltschutz, Bildung und Wohnen usw. aufzuzeigen und zu beheben. In Hamm, das nicht gerade zu den politisch aufgeschlossensten Regionen der Bundesrepublik gehört, war es lange Zeit ruhig. Doch bald stehen die Europawahlen vor der Tür und schon wird von den hoffnungsfrohen Nutznießern dieses Spektakels kräftig die Werbetrommel gerührt.
Ja, auch die Landtagswahlen in NRW lassen nicht mehr allzulang auf sich warten. Und siehe da, in freudiger Erwartung des kommenden Ereignisses präsentiert sich sogar in Hamm hoffnungsfroh eine Grüne Aktion Zukunft (GAZ), die ebenfalls etwas von dem großen Kuchen, den ein erlauchter Kreis von Herrschaften unter sich aufteilt, abhaben will. Und sich zum Überfluss als parlamentarischer Arm der inzwischen oft anerkannten Bürgerinitiativen aufspielt.
Aber noch hat sich der Wahlrummel nicht in vollem Umfang entfaltet und noch erscheint es mir möglich, einige kritische Bemerkungen zu den Parlamentswahlen und den sich zur Wahl stellenden Parteien zu sagen, ehe endgültig Wortgeklingel und Propagandarummel überhandnehmen.
Führen wir uns klar vor Augen: "Parteien sind Organisationen zum Erwerb, zur Ausübung und zur Vermehrung der politischen Macht" (1). Parteien, welcher Art auch immer, wollen die Macht erobern, um dann die Gesellschaft in ihrem Sinne von oben her umzukrempeln. Doch gerade die Bürgerinitiativen, die Stadtteil-, Mieter-, Umweltschutz- und Frauengruppen versuchen von unten im überschaubaren Nahbereich ihre Interessen durchzusetzen. Gerade hier wurden die größten Erfolge erzielt, weil die Situation für Jeden klar zu erkennen ist.
Durch direkte Aktionen können die Ursachen eines Missstandes unmittelbar angegangen und behoben werden. Wenden sich die Betroffenen mit Bittschriften, Petitionen und Eingaben an Berufspolitiker und Behörden, würde die ganze Sache bald einschlafen. Sollten sich Parteien und der Staat doch einmal zu Zugeständnissen bequemen, dann nur, weil der Druck der Betroffenen so groß geworden ist, dass den Regierenden keine andere Möglichkeit bleibt, ohne große Komplikationen ihre Macht zu erhalten.
Trotzdem gibt es immer wieder Gruppen, die meinen, dass alle bestehenden Parteien zwar schlecht seien, aktuell aber vorgeben, diesmal seien sie es, die uns wirklich vertreten würden. Das große Angstgeschrei der etablierten Parteien gegen den neuen Wahlkonkurrenten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ursprüngliche Gefährlichkeit einer Bewegung für die Herrschenden durch eine Wahlbeteiligung erheblich herabgesetzt wird.
Teilnahme am Parlamentarismus bedeutet nichts anderes, als sich auf das vom Staat angebotene Kampffeld zu begeben. Selbst wenn wir den sich zu Wahl stellenden Kandidaten keine bösen Absichten unterstellen würden, müssen sie sich an die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie mit all ihren üblen Methoden halten.
Die Gründung und der Aufbau einer Partei würde wertvolle Kräfte binden, die anderswo besser zur Verfügung stehen würden. Zum Aufschwung und zur "Basiserweiterung" trägt das alles sicher nicht bei. Es ist vielmehr schade um diejenigen in der Bevölkerung, die aufgrund aller möglichen Skandale und Ungerechtigkeiten ihre Zweifel an diesem Staatswesen bestätigt sehen und jetzt mit einer neuen Protestpartei getröstet werden. Das Argument der Wahlbefürworter, dass man mit vielen Menschen während der Wahlzeit ins Gespräch kommen könnte, ist irreführend: Wir können mit ihnen ebenfalls reden ohne selbst zu kandidieren.
Und welch ein Widerspruch: Wir fordern die Menschen auf, selbständig zu handeln und dann sagen wir "wählt uns und nicht die Anderen, wir werden euch schon vertreten". Wenn die Menschen über die Angelegenheiten, die sie betreffen selbst bestimmen wollen, dürfen sie keine Stellvertreter wählen!
1.) Aus: "Brauchen wir eine Grüne Partei?", Wolfgang Sternstein, 1978
Anmerkung
Zur "Grünen Aktion Zukunft" (GAZ) und Herbert Gruhl habe ich in "Der grüne Hammer" Nr. 8 (1979) den Artikel "Ökodemokratie oder Ökodiktatur?" geschrieben:
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