Aus: Schwarzer Faden, Nr. 13, 1/1984

Silvio Gesell - "der Marx der Anarchisten" - ein Faschist!

Ob bei Sparkassendirektoren oder Anarchisten, bei Nazis, Grünen, Neoliberalen oder oder bei der SPD - überall kann man sie finden, diese merkwürdigen Anhänger von Silvio Gesell. Oft ist von ihm nur bekannt, daß er irgendetwas mit dem Geld vorhatte und Wirtschaftsfachmann gewesen sei. In seinem 380seitigen Hauptwerk "Die Natürliche Wirtschaftsordnung" (NWO) schreibt er geschwätzig und sich in vielen Einzelheiten verlierend, was in knappen Worten folgenden Inhalt hat: Alle sozialen Probleme hängen mit der Beherrschung des Geldumlaufs zusammen. Die heutigen Funktionen des Geldes - Tauschmittel. Wertbestimmung und Wertbewahrung (Hortung) - schließen sich teilweise gegenseitig aus. Geld, das gehortet wird, kann nicht dem Warentausch dienen: also auch nicht durch Konsum die Wirtschaft ankurbeln. Da bei normalen Waren durch Verderb (etc.) eine Wertminderung eintritt, bei Geld aber nicht, hat das Geld ein Privileg. Es liegt kein Werteverfall vor. Das Geldkapital ist durch seine Zurückhaltbarkeit den Waren überlegen und kann einen Zins fordern.

Das auf diese Weise ohne Arbeit erworbene Einkommen ist zum einen Quelle der Ausbeutung zum anderen Ursache für Wirtschaftskrisen. Sind die Gewinne der Unternehmen geringer als der Zinssatz bei der Bank, entfällt für sie der Anreiz, Güter für den Markt zu produzieren. Sie legen deswegen in zinstragendem Kapital an (Hortung) und investieren nicht mehr.

Silvio GesellIn dieser Situation hilft Gesell weiter. Er löst das Problem, indem er dem Geld durch eine Nationalbank einen allmählichen Werteverlust zufügen läßt. Er nennt es dann Schwundgeld. Jährlich verliert es einen bestimmten Prozentsatz an Wert und zwingt dadurch die Geldbesitzer, es möglichst schnell auszugeben, um ohne Wertverlust davonzukommen. "Das Geld soll rollen immerzu rollen", um auf diese Weise die Marktwirtschaft anzukurbeln.

Bei Gesells Bodenrechtsreform geht es ihm um die Abschaffung ungerechter Bodenpreissteigerungen. Ein Bodenamt kauft kurz und bündig den gesamten Grund und Boden auf und verpachtet ihn an interessierte Nutzer. Aus den eingenommenen Bodenpachten wird dann ein besonderes Prunkstück der gesellschen Lehre zur "Hochzucht des Menschengeschlechts" bezahlt: der Mutterlohn. Der (Sozial)Staat soll allerdings weitgehend abgebaut werden, jeder soll gefälligst für sich selbst sorgen, der Tüchtige wird es schon schaffen!

Soweit ein erster Einblick in Gesells Theorie. Sie wird verständlicher, wenn sie auf dem Hintergrund seines Lebens betrachtet wird. Er lebte von 1862 bis 1930 die meiste Zeit als Kaufmann und pflegte politische und menschliche Probleme aus diesem Blickwinkel zu betrachten. 1886 wanderte er nach Argentinien aus, bringt es zum Großindustriellen, wird unter dem Einfluß der Ideen von Pfarrer Kneip Vegetarier und beschäftigt sich mit Wirtschaftsfragen.

Im Jahre 1900 kehrte er nach Weimar zurück, wirtschaftete für eine kurze Zeit in der Schweiz als Bauer und kehrte nach Argentinien zurück. Während des 1. Weltkrieges lebte er wieder in der Schweiz und betätigte sich als Hurrapatriot. Als 1919 die Bayrische Räterepublik ausgerufen wurde und die Revolutionäre um einen Finanzminister verlegen waren, holte man ihn nach München. Mühsam und Landauer hielten einiges von ihm, berief er sich doch in seinen Schriften auf Proudhon und Stirner. Die Räterepublik hielt sich nur 8 Tage und viele Revolutionäre mußten bei den Auseinandersetzungen ihr Leben lassen oder kamen jahrelang ins Gefängnis. In Gesell erkannten die Herrschenden jedoch einen der Ihren wieder und sprachen ihn frei. In der Folgezeit arbeitete er mit den verschiedenen Freiwirtschaftsverbänden, die sich seine Lehre zu eigen gemacht haben, zusammen.

Während der Wirtschaftskrise der 20er Jahre bestand ein großes Interesse an Wirtschafts- und Währungsfragen und es erwies sich als Vorteil für die Gesellianer, mit einer bereits ausformulierten Theorie aufwarten zu können. Durch diesen Umstand begünstigt entstanden zahlreiche Kontakte zu so verschiedenen Gruppierungen wie Anarchisten, völkische Vereinigungen und der SPD.

Bevor wir zu dem zentralen Ansatzpunkt der gesellschen Theorie - dem Zins - kommen, sollten wir hinterfragen, was Gesell zu einigen elementaren sozialistischen und anarchistischen Grundsätzen zu sagen hat; d. h. zu dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, dem Arbeitsertrag und der Entfremdung in der kapitalistischen Wirtschaft. Ein sicherlich einmaliges Kuriosum dürfte Gesells Definition des Arbeiters sein: "Als Arbeiter im Sinne dieser Abhandlung gilt jeder, der vom Ertrag seiner Arbeit lebt. Bauern, Handwerker, Geistliche. Soldaten, Offiziere, Könige sind Arbeiter in unserem Sinne (NWO S.39). Von hier aus bis hin zum Anerkennen des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist nur ein kleiner Schritt. An jeder beliebigen Stelle seines Werkes kann man es nachlesen: In seinem Gesellschaftsmodell gibt es Unternehmer, die durch einige Änderungen des Währungssystems zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden sollen und Arbeiter, die der brutalen Logik des kapitalistischen Systems ausgesetzt werden und selber sehen müssen, wie sie damit klarkommen. "Absatz, Absatz, das ist es, was wir Unternehmer brauchen, regelmäßigen, gesicherten Absatz. Aufträge auf lange Zeit im voraus, denn auf Regelmäßigkeit des Absatzes der Waren ist die Industrie angewiesen. Wir können doch nicht jeden Augenblick unsere eingearbeiteten Leute entlassen. Jedesmal, wenn der Absatz stockt, um kurze Zeit darauf neue, ungeschulte Leute einzustellen." (NWO S. 251)

In der Frage der Entlohnung von Arbeit sieht Gesell nicht eine Angleichung der weit auseinanderklaffenden Lohnschere und gegenseitige Rücksichtsnahme vor, sondern bevorzugt Auslese und Hierachie: "Die Arbeitserträge werden vielleicht verdoppelt, aber nicht geebnet. Das Gleichmachen der Arbeitserträgnisse ist Sache der Kommunisten. (...) Demnach werden fleißige, tüchtige Arbeiter einen ihrer größeren Arbeitsleistung genau entsprechend größeren Arbeitsertrag heimbringen." (NWO S. 41)

"Das Wirtschaftswesen ist die organisierte Selbsterhaltung. Aus sich heraus hat es sich auszugestalten, nach einer inneren Notwendigkeit - immer durch das Tun des Menschen. Daß wir nicht irgendwie wirtschaftlich verfahren: nach religiösen oder ästhetischen Richtlinien. Sondern Wirtschaftliches wirtschaftlich betreiben, sachgemäß, das gibt der Wirtschaft ihre 'Natürlichkeit'. Besser ist: Wirtschaft hat, wie jeder Betrieb, ihre Eigengesetzlichkeit. Was immer wir tun, wir müssen diese Eigengesetzlichkeit sich frei entfalten lassen. Wirtschaft ist in sich frei. Freiwirtschaft." (NWO S. 21)

Nach diesen ersten makaberen Kostproben aus seiner Theorie wollen wir uns dem zentralen Punkt seiner Lehre, dem Zins, zuwenden. Der Gesellanhänger Kurt Kessler umreißt das Problem folgendermaßen:

"Der grundsätzliche Fehler unseres Geldsystems ist also die Möglichkeit der Geldhortung, durch sie wird sowohl eine Instabilität der Währung (inländische Kaufkraft des Geldes) wie auch der Konjunktur (Rückgang des allgemeinen Geschäftsganges, der Produktion und der Arbeitsplätze) bewirkt. (...) Die Lösung dieses für Freiheit und Frieden so entscheidenden Problems kann nur darin liegen. daß man durch eine Reform das Geld auf die Stufe der Waren herabdrückt. Und das würde bedeuten, dem Geld einen allmählichen Wertverlust zuzufügen. (...) Es leuchtet ein, daß das Geld durch die Umlaufsicherung einer steten Anbietungspflicht unterliegt. Und das führt natürlich dazu, daß das Zinsniveau sich der Nullgrenze nähern wird. (...) Um die Bedeutung der beschriebenen Maßnahmenmen auch in sozialpolitischer Hinsicht würdigen zu können. muß besonders darauf hingewiesen werden, daß Zins leistungsloses Einkommen ist und damit auf der Ausbeutung fremden Arbeitsertrages beruht. Das Verschwinden des Zinses stellt die soziale Gerechtigkeit her, und es wird ganz allgemein das Rechtsbewußtsein in bezug auf Eigentum und Eigentumsdelikte stärken, wenn es keine legal geduldete Ausbeutung mehr gibt." (1)

Die Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise wird also nicht in der Tatsache gesehen, daß die unrechtmäßigen Eigentümer an den Produktionsmitteln Mittels politischer und militärischer Gewalt die Nichteigentümer daran hindern, Produktionsweise und Einkommensverteilung nach ihrem Interesse zu organisieren. Gesell macht allein die Zirkulationsprobleme des Geldes verantwortlich für Ausbeutung und Wirtschaftskrisen.

Ausschließlich von dieser Möglichkeit ausgehend, kann die Lösung des Problems nur durch eine schnellere Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und Zinssenkung herbeigeführt werden. Indem er in der Formulierung seiner Frage die zu beweisende Lösung miteinschließt, kann er natürlich leicht die Selbstverständlichkeit seiner Schlußfolgerungen "beweisen". Mit einer Selbstverwaltung der Produzenten hat Gesell nicht das Geringste im Sinne. Seine "Reformen" sollen als währungspolitische Kurskorrekturen innerhalb des kapitalistischen Systems stattfinden, ohne dabei die Eigentumsverhältnisse anzutasten.

Aber selbst wenn wir uns ein Stück weit auf seine Logik einlassen würden, könnten wirklich durch Zinssenkung die Unternehmen ohne weiteres zum Investieren gebracht werden und durch so eine geringfügige Mechanismusänderung die Wirtschaft angekurbelt werden, wie Gesell uns das verspricht??

Ernest Mandel, Professor für Nationalökonomie in Brüssel, bewertet diese Möglichkeit folgendermaßen: "Die Notenbanken können tatsächlich zu einer Ausweitung des Kredits seitens der Geschäftsbanken, was als stimulierendes Mittel für die Wiederbelebung im Falle einer Depression angesehen wird, ermutigen, indem sie das Volumen des Banknotenumlaufs durch eine Senkung des Zinsfußes vergrößern. Der Einfluß des Zinssatzes auf die Wirtschaftskonjunktur darf jedoch nicht überschätzt werden. Nachforschungen in den USA haben ergeben, daß der Zins, den der Unternehmer dort zahlt, nur ein sehr unbedeutendes Element der Produktionskosten darstellt: 0,4% des Selbstkostenpreises von Fertigwaren; 0,8% des Selbstkostenpreises von Bergbauprodukten und 0,2% der Distributionskosten. (...)

Aber diese Theoretiker vergessen, daß man, wenn die Profitrate im gleichen Augenblick steigt, wo die Absatzmärkte schrumpfen, den Rückgang der lnvestitionstätigkeit nicht aufhalten kann.Was den Unternehmer in Wirklichkeit interessiert, ist nicht der theoretische Profit, den er sich aus einer bestimmten Lohnhöhe, einem gegebenen Zinsfuß und bestimmten Herstellungskosten ableiten kann, sondern der wirkliche Profit, den er zu realisieren hofft, wenn er diesen Selbstkostenpreis mit den Absatzmöglichkeiten seiner Waren vergleicht: Ein höheres Einkommens- und Proíitniveau kann eine notwendige Bedingung für Investitionen sein; aber es kann keine hinreichende Bedingung sein. Man mag sich fragen, ob Unternehmen so wenig Scharfblick besitzen, um ihre Kapazität lediglich auf der Basis ständig hoher Profite auszudehnen. Wenn sie nicht mit ihrer vollen Kapazität gearbeitet haben, wenn sie nicht einen Bestand an unerledigten Aufträgen haben, wenn sie infolge Kapitalmangels nicht in der Lage /oder nicht darauf eingestellt waren, sich zu vergrößern, und wenn sie nicht einen späteren Anstieg ihrer Verkäufe erwarten können, gehen die Investitionen (auf dem Höhepunkt des Booms) eher zurück, selbst wenn die Profite hoch bleiben." (2)

Und nun stellen wir uns die Durchführung der gesellschen Geldentwertung einmal praktisch vor; was wären die Folgen seiner vorgeschlagenen Maßnahmen, würden sie Wirklichkeit? "Um dem Schwund zu entgehen, werden die Unternehmer kurz vor dem Geldsteuertermin entlohnen. Die Arbeiter müssen nun versuchen. ihrerseits noch schnell vor dem Fälligkeitsdatum einzukaufen. Da nun aber die Geschäftsleute sicher keine große Lust verspüren, den Schwund zu tragen, würden die Geschäfte einfach geschlossen. Wer zieht den kürzeren bei der ganzen Angelegenheit?" (3)

Die Neoliberale Theorie Gesells

ln der Wirtschaftspolitik der westlichen Welt werden im Wesentlichen neoliberale und neokeynesianische Theorien gegenübergestellt. Während neokeynesische Maßnahmen in der Geldschöpfung und Umverteilung des Reichtums zugunsten auch der Lohnabhängigen einen Ausweg aus der Krise suchen, will die neoliberale Theorie den Sozialstaat abbauen und nur die wirtschaftlich Starken und Leistungsfähigen überleben lassen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde in Europa eine im wesentlichen sozialdemokratisch geprägte keynesianische Wirtschaftspolitik getrieben. In England und den USA vollzogen sich aber in den letzten Jahren bemerkenswerte Umorientierungen der Regierungen hin zum Neoliberalismus. War der in Chile von brutaler staatlicher Unterdrückung begleitete neoliberale Weg bisher nicht gesellschaftsfähig, beginnt er jetzt Punkte zu sammeln, indem er seine Finger in die offenen Wunden der keynesianischen Praxis legt: Der für die Verteilung der Sozialleistungen benötigte Verwaltungsapparat arbeitet ineffizient und in Folge der Krise gibt es immer weniger zu verteilen.

Den Grundzügen des Neoliberalismus von Friedmann und Hajek stimmen die heutigen Gesellanhänger in der "Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft" zu: "Die von ihr vertretene Freiwirtschaftliche Theorie ist auch auf den Gedanken des klassisch-liberalen Eigennutzes zurückzuführen; Privatinitiative, Konkurrenz, freie Wechselkurse, Währungsstabilität sind die Grundlagen des marktwirtschaftlichen Konzepts. Staatseingriff. Staatsschulden, Sozialimitation jedoch zerstören das System von Leistung und Gegenleistung. Der Unternehmer als Spezialist für das Angebot an Gütern und Diensten in der Volkswirtschaft sollte nicht in Pflicht genommen werden für Mängel. die ihm nicht anzulasten sind. All dies vertritt prinzipiell die Freiwirtschaftslehre seit 1900." (4)

Die kapitalistischen Marktgesetze wurden von Gesell immer wieder fanatisch als höchste Form aller Weltgerechtigkeit gefeiert und lieferten so den Unternehmern eine  willkommene wirtschaftstheoretische Rechtfertigung für ihre Ausbeutungsstrategien:

"Also die Nachfrage nach Geld scheiden wir vollständig von allen menschlichen Bedürfnissen. Unternehmungen, Handlungen, Marktverhältnissen usw. , "wir entziehen sie dem Wertnebel , der sie bisher umhüllte, und setzen sie thronend auf den Berg von Waren, womit die Arbeitsteilung den Markt ununterbrochen beschickt - weithin für alle sichtbar, greifbar und meßbar." (NWO S. 173) Imperialistische Eroberungspolitik. wie sie seit Jahrzehnten von den westlichen Industriestaaten betrieben wird, finden ganz im Sinne Gesells statt: "In Tälern und auf Inseln wohnende oder durch Mauern und Zölle abgeschlossene Völker verkümmern, sterben aus. Handelsvölker dagegen, die mit allen Erzeugnissen der Erde ihr Blut würzen, bleiben frisch, vermehren sich und erobern die Welt." (NWO S. 117)

Durch seine Äußerung "Die Manchesterschule war auf dem richtigen Wege und auch das, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig" (NWO S. 14). stellt er sich bewußt und mit allen Konsequenzen hinter die schlimmsten Ausbeutungsformen, die die Menschen in jüngster Geschichte erlebt haben. Nach seinem Leitspruch "Die Rechte der Massen können niemals eng genug begrenzt werden" (NWO S. 83), handelten faschistische Diktaturen. Konservativ-reaktionäre Regierungen in England und den USA betreiben heute in diesem Sinne nicht nur Wirtschaftspolitik,sondern auch noch Ordnungs- und Gesellschaftspolitik. Dabei springt ein zusätzlicher Vorteil für die Unternehmer heraus. In den Wirtschaftsprozess darf nicht durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Arbeiter eingegriffen werden. Sollten aber Teile der Bevölkerung dieses marktwirtschaftliche System angreifen (Gesell würde sagen "manipulieren") wollen, so haben die Neoliberalen nichts dagegen einzuwenden, wenn nach bewährter Methode vom Staat Ordnungspoliltik gegen die Bevölkerung betrieben wird.

"Dieser prinzipiellen Unterscheidung von Ordnungspolitik (erlaubt) und Prozeßpolitik (nicht erlaubt) des Staates folgt die feinsinnig-zynische Unterscheidung zwischen einem autoritären und totalitären System: Das erste ist durchaus akzeptabel im neoliberalen Sinne, da zur Erhaltung der Ordnung Autorität von seiten des Staates unabdingbar ist. Das letztere jedoch ist dadurch gekennzeichnet. daß der Staat nicht nur die Ordnung sichert, sondern in alle Bereiche der gesellschaftlichen Totalität eingreift, also auch in Marktprozesse. (...) In diesem Sinne ist das Chile Pinochets ein autoritäres und mithin akzeptables Regime, während Cuba als totalitäres Regime bekämpft und möglichst eleminiert werden müsse. " (5)

Eine wichtige und nicht unbeabsichtigte Folge des Gesellschen Liberalismus ist die Zerschlagung der Interessenvertretungen und ihrer organisierten Macht. Während die Interessen der Unternehmer schon durch ihr Streben nach Gewinn definiert sind und einer quasi-gewerkschaftlichen Organisation im Grunde nicht mehr bedürfen, sollen die anderen Schichten- und Klassenangehörigen individualisiert und gegenüber der Logik des kapitalistischen Marktes wehrlos gemacht werden:

"Die Völker, Staaten, Rassen, Sprachgemeinschaften. religiösen Verbände, wirtschaftlichen Körperschaften, die auch nur im geringsten den Freilandbegriff einzuengen suchen, werden geächtet, in Bann getan und für vogelfrei erklärt." (NWO S. 92)

Während bei der Anwendung der keynesianischen Theorie immerhin noch einige soziale Vergünstigungen für die unteren Schichten durch Klassenkompromisse herausgeholt werden können, steht bei Gesell die blanke Morddrohung. Die freiwirtschaftliche Rechtfertigung für so ein Vorgehen - der beste Kontrolleur eines Kapitalisten ist ein anderer Kapitalist - ist im Zeitalter der multínationaler Konzerne und der Monopole längst überholt und durch die Wirklichkeit widerlegt.

Elmar Altvater ist voll und ganz zuzustimmen, wenn er zusammenfassend sagt: "Der Neoliberalismus stellt sich also als eine Theorie dar, die eindeutig und kompromißlos den Primat der Ökonomie vor allen anderen Entscheidungskriterien, Wünsche und Hoffnungen stellt. Gegen die ökonomischen Gesetze gibt es keine Auflehnung; die Verwertung des Eigentums läßt keine anderen Prinzipien neben sich zu.(...) Die Kategorie der (ökonomischen) Notwendigkeit soll unangefochten über die Kategorie der Möglichkeit, des Machbaren, Dominanz gewinnen. (...) Der praktische Neoliberalismus von heute ist eine lebensbedrohliche Konzeption. Er muß theoretisch und praktisch bekämpft werden." (6)

Gesell und der Faschismus

Die Zeit, in der Gesell seine sogenannte "Natürliche Wirtschaftsordnung" schrieb, war vorherrschend von einem unersättlichen Revanchismus geprägt und er war da keine Ausnahme. So ließ er seinen bluttriefenden Gefühlen "freien" Lauf, wenn es ihm um nationalstaatliche Ansprüche auf bestimmte Territorien ging: "Blutverlust! Wäre es doch nur gemeiner Blutverlust! Eine gewöhnliche Wunde heilt; man schneidet ein Ohr, eine Hand ab: der Blutstrom versiegt, die Wunde vernarbt. Aber die Wunde, die uns die Amputation eines Grundstuckes am Leibe hinterläßt, eitert ewig, vernarbt nie. An jedem Zinszahlungstage springt die Wunde immer wieder auf, und das rote goldene Blut fließt in Strömen ab. Bis aufs Weiße wird da der Mensch geschröpft, blutleer wankt er einher. Das Abschneiden eines Grundstückes von unserem Leibe ist der blutigste aller Eingriffe, er hinterläßt eine jauchige, klaffende Wunde, die nur unter der Bedingung heilen kann, daß das geraubte Glied wieder angesetzt wird." (NWO S. 118)

Seltsamerweise halten seine Anhänger ihn für einen Pazifisten und begründen das so: "'Ich glaube nicht', so sagte er, 'daß eine Heeresverstärkung an sich eine Gefährdung des Friedens bedeutet.' Er meint, wenn das ganze Volk bewaffnet sei und dasselbe auch jenseits der Grenze der Fall sei, dann sei der Friede gesichert." (7) - Hier werden die Begriffe Pazifismus und Militarismus auf den Kopf gestellt. Und zwar genauso wie von den Rechtsradikalen die Begriffe 'rechts' und 'links' so sehr in ihr Gegenteil verdreht werden (z.B.:"Kommunisten sind in Wirklichkeit Reaktionäre"), um eine in dieser Weise angerichtete Verwirrung für die Werbung neuer unbedarfter Anhänger zu nutzen.

Der Antisemitismus ist als wichtiges Kennzeichen rechtsradikaler Ideologie ebenfalls Bestandteil der Gesellschen Gesellschaftsauffassung und wird geschickt mit seinen monetären Vorstellungen vermischt. Das herkömmliche und aus seiner Sicht schlechte Geldwesen kommt angeblich "aus der Zeit der Babylonier. Hebräer, Griechen und Römer" (NWO S. 313). Dem Gesellkritiker Peter Elger fällt dabei auf:"Die Entstehung unseres Geldes wird also in nichtgermanischen Völkern angesiedelt, was wiederum für die politische Entwicklung der Gesellschen Anhänger von entscheidender Bedeutung ist. Als ich in freiwirtschaftlichen Zeitungen von unserem semitischen Geldwesen las, begriff ich die Bedeutung dieser Stelle. Gesell hat seine Bezüge zur rechtsradikalen Ideologie streckenweise sehr gut getarnt. Er drückt diese in gehobenem Niveau aus. So taucht das Wort Jude kaum in der 'Natürlichen Wirtschaftsordnung' auf. Er spricht vornehmer vom - Zinsnehmer!!"(8)

Es ist bestimmt kein Zufall, daß Gesells Wirtschaftspläne von Anfang an in der NSDAP beachtet wurden und sogar Gregor und Otto Strasser beeindruckten. "Auch im Bamberger Programm, einem der wichtigsten Frühzeugnisse der NSDAP, finden sich neben der auffallenden Bevorzugung der Agrar- vor der Industriewirtschaft Forderungen, die auch die Gesellschen Hauptforderungen nach einer Boden- und Währungsreform aufgreifen. Die Freigeld-Theorien wurden 1931, nach dem sich die verschiedenen Silvio-Gesell-Gruppen und -Vereine aufgelöst hatten und deren Anhinger zumeist der NSDAP zugelaufen waren, in zunehmendem Maße auf allen Ebenen der nalionalsozialistischen Partei diskutiert." (9) Die Auflösung der Freiwirtschaftsvereine 1931 wurde von heutigen Gesellanhängern bestritten, aber unbestreitbar bleibt eine intensive gegenseitige theoretische und organisatorische Verzahnung zwischen Freiwirtschaftlern und Rechtsradikalen in der Weimarer Republik. (10)

Ein bezeichnendes Kapitel stellt das Bestreben von Gesellanhängern dar, Einfluß auf die Wirtschaftspolitik der regierenden NSDAP zu gewinnen. Dazu muß man wissen, daß Gesell und seine Anhänger bei der Wahl ihrer Bündnispartner gar nicht zimperlich sind. Ihnen kommt es darauf an, die entscheidenden wirtschaftspolitischen Posten einer Regierung innezuhaben. "Unter welcher Flagge diese Regelungen durchzufuhren waren, das war ihm völlig gleichgültig. Jede Regierungsform, mag sie abgestempelt sein wie immer, die ihm zu einer Verwirklichung dieses für ihn entscheidenden Anliegens die Möglichkeit geboten hätte, wurde von ihm akzeptiert." (11)

1964 wurde von der Freisozialen Union (FSU), der Partei der heutigen Gesellanhänger, die Broschüre herausgegeben: "Die Blutnacht vom 30.Juni 1934. Hintergründe der Röhm-Affare." In ihr plaudert ein Gesellanhänger der gehobenen Klasse, wie er sich führenden Nazis zur Verfugung stellt, die Freigeldtheorie zu erläutern, um sie gegebenenfalls zum NS-Wirtschaftsprogramm werden zu lassen. "Die Bereitwilligkeit, neue Wege, die nicht vom Marxismus her, oder zu ihm führten, zu prüfen, war erfreulich offen"(S. 8), nimmt er zufrieden zur Kenntnis. Und die Vernichtung von Tausenden von Menschen erscheint ihm nur als geringfügiger Makel gegenüber den "segensreichen" Möglichkeiten, die sich eröffnen würden, wenn Hitler nur seinem Wirtschaftskonzept zustimmen würde.

Völlig unkommentiert verbreitet die FSU in dieser Broschüre auch heute noch: "Sie hielten wohl die Zerschlagung der Linksopposition für nötig, waren auch für Schlägereien und Schandtaten gegen die Juden meistens zu haben. Aber neben diesen aufgestauten Gefühlen, die sich in Gewaltakten entladen wollten, war viel ehrliches Wollen vorhanden." (S. 19)

Der selbstkritische Gesellanhänger Hugo Kierdorf vertrat nach der Veröffentlichung dieser Broschüre die Ansicht, daß das Instrument der Gesellschen Reformen in der Hand eines totalitären Regimes zu der unmenschlichsten tyrannischen Sklaverei hätte führen müssen (12). Die Mehrheit der Gesellianer bewies daraufhin einmal mehr ihre Uneinsichtigkeit und bezichtigten Kierdorf der "böswilligen Kritik". Genau die gleiche Grundeinstellung wie in der Röhm-Broschüre trifft man heute bei Gesellanhängern in den GRÜNEN an, wenn sie sich gegen den Vorwurf der "rechten Tendenz" zur Wehr setzen wollen: "Es hat aber auch Freiwirte gegeben, die sich der nationalsozialistischen Partei angeschlossen haben. Die NSDAP war am Beginn eine Bewegung, eine Bewegung, die eine Not wenden sollte, also keine Diktatur, eine Bewegung, wie die Bewegung der Grünen heute, bei der man auch manche Unebenheiten in Kauf nimmt, in der Hoffnung, daß sich das Gute durchsetzt. Nun unterstelle mir keiner, ich hätte gesagt, die Grünen hätten die gleichen Inhalte, wie die Nationalsozialisten. Sagen will ich, daß politische Bewegungen aufgrund von Problemlagen entstehen, daß politische Bewegungen in die Irre gehen können..."(13) - Das in der Tat!!

Doch zurück zur Situation nach 1933. Während Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten in Konzentrationslager wanderten, hielten sich die Gesellanhänger in ihrer großen Mehrheit recht gut über Wasser. Günter Bartsch's Darstellung des weiteren Weges der "Anarcho-Liberalen", wie er sie nennt, entbehrt nicht eines hintergründigen Zynismus, wenn er schreibt: "Am wendigsten und am erfolgreichsten waren die Anhänger Silvio Gesells.(...) Ungeachtet des Verbots der Freiwirtschaftsbewegung Gesells fand sich 1938 - nach dem Münchner Abkommen - ein freiwirtschaftlicher Arbeitskreis zusammen. Er beriet zunächst über die Voraussetzungen der wirtschaftlichen und sozialen Gesundung Deutschlands unter den Verhältnissen des Nationalsozialismus.(!) Seine wichtigsten Köpfe waren Dr. Otto Lautenbach, Karl Walker und Dr. Franz Hochstetter. Dank ihrer Initiative wurde der Arbeitskreis zu einer ständigen, wenn auch unregelmäßig tagenden Körperschaft. In den Jahren 1943/44 entwarfen sie ein Sofortprogramm zur finanziellen und wirschaftlichen Überwindung der Kriegsfolgen. Es wurde vom freiwirtschaftlichen Arbeitskreis im Sommer 1944 bestätigt. Dieses Sofortprogramm diente den Anhängern Silvio Gesells nach dem deutschen Zusammenbruch(!) im Mai 1945 als Basis für die Neuaufnahme ihrer Tätigkeit." (14)

So wurde denn 1945 die Radikal-Soziale Freiheitspartei (RSFP), die Vorläuferin der heutigen Freisozialen Union (FSU), gegründet. Sie erhielt 1946 in Hamburg mit 20.034 Stimmen 0.7 %. In dem Artikel 10 des Verfassungsvorschlags der RSF heißt es für die Gesellanhänger in wiedereinmal so typischer Weise: "Der Grund und Boden gehört allen gemeinsam. Das Recht zur Benutzung und Bearbeitung des Grund und Bodens und zur Ausbeutung der Bodenschätze muß durch die Zahlung einer Bodenbenutzungsgebühr an eine öffentliche Bodenverwaltung erworben werden. Diese Gebühr wird in der Höhe erhoben, in der auch andere Bewerber um den gleichen Boden sie zu zahlen bereit sind. Wer die im freien Wettbewerb festgestellte Bodennutzungsgebühr nicht zahlen kann oder will, muß das Recht der Bodennutzung abtreten." - Wer würde wohl die geforderte Bodenbenutzungsgebühr im restaurierten westdeutschen Kapitalismus zahlen können, der mittellose Arbeiter oder der seine Privilegien und Gelder behaltende Unternehmer?

Ja, wer so lammfromm dem Kapitalismus huldigt, bekommt dafür - trotz "Zinstick" - eine Belohnung. Der Gesellanhänger Otto Lautenbach wird mit Ludwig Erhard zum Herausgeber der Zeitschrift "Währung und Wirtschaft" (15). Einem feinen "Anarcho-Liberalismus" hat da Günter Bartsch seine Schubladenkategorisierung verpaßt! Ob die so in eine Schublade gesteckten ihm dies noch einmal verzeihen werden? - Immerhin fanden 1952 zahlreiche Mitglieder der als Nachfolgeorganisation der NSDAP verbotenen "Sozialistischen Reichspartei (SRP) bereitwillige Aufnahme in der FSU. Ferdinand Böttger kam so zu seiner neuen parteipolitischen Heimat (16). Die FSU machte 1951 noch einmal von sich reden, als sie es geschafft hat, mit Franz Joseph Strauß und zahlreichen anderen Honoratioren aus Politik und Wirtschaft in dem "Komitee zur gesetzlichen Sicherung der Deutschen Mark" zusammenzuarbeiten (17).

Die FSU gibt es noch heute. Nach eigenen Angaben hat sie ca. 1000 Mitglieder. In ihrer monatlichen Zeitschrift "Der Dritte Weg" wird auf übelste Weise auf alles, was links ist eingedroschen und ihr Inhalt unterscheidet sich nicht im geringsten von der Demagogie der NPD. Selbst die nicht ganz so rechts stehende Schwesterpartei "Liberalsozialistische Partei" (LSPS), die heute mit drei Sitzen im Nationalrat der Schweiz vertreten ist, hat sich in ihrem Mitteilungsblatt "Evolution" im Dezember 1977 von einigen "neonazistischen Ausrutschern" der FSU distanziert.

"Der Dritte Weg"Nach dem Motto "Wir Deutschen haben  unter dem polnischen Chauvinismus Schlimmes erleiden müssen" (18) wird an den unmöglichsten Stellen nach "Deutschenhaß" gesucht. Auf dem FSU-Parteitag 1977 wurde ernsthaft diskutiert, ob die Frau des NS-Massenmörders Kappler wegen ihrer "Befreiungstat" für ihren von den italienischen Behörden festgehaltenen Mann das Bundesverdienstkreuz erhalten soll.

In einem offenen Brief an das "Nationalpolitische Studienalmanach" (Schotten) definiert die FSU ihr Verhältnis zum Nationalismus folgendermaßen: "Das Nationalbewußtsein möchten wir als einen zweifellos starken Impuls vorwiegend im kulturellen Bereich angesiedelt wissen und wünschen einen lebendigen Austausch verschiedener verschiedener Volkskulturen bei bewußter Pflege der nationalen Kulturgüter. Entschieden wenden wir uns gegen die einseitige Diffamierung des deutschen Namens in Vergangenheit und Gegenwart."(19)

Daß es noch viel schlimmer kommen kann, beweist ein neuerer "Diskussionsbeitrag": "Um überleben zu können, muß jedes Volk weltweit und geopolitisch denken. Das gilt in erster Linie für unser deutsches Volk. Sein Lebenswille muß gefördert werden. Wir müssen uns völkisch orientieren im wahrsten Sinne des Wortes. Solche Kräfte dürfen nicht mehr als neo-nazistisch verschrien werden." (20)

Gesell und die Linke

Auch in der SPD der Weimarer Republik hatte Gesell eine beachtenswerte Anhängerschaft. Der Thüringer SPD-Landtagsabgeordnete Erich Mäder hat mit seinem damaligen Parteikollegen und späteren FSU-Mitglied Johannes Schumann versucht, die SPD auf die Freiwirtschaftslehre einzuschwören.

Im Nachhinein schreibt Schumann: "Nachdem jahrelange Bemühungen um eine interne Klärung am Widerstand gewisser 'Experten' gescheitert waren, entschlossen mein Freund Erich Mäder und ich uns zur Herausgabe eines Buches "Arbeiterklasse und Geldpolitik", das in einem Thüringer SPD-Verlag erschien, und einer gleichlautenden Schriftenreihe, die immerhin eine Auflage von 50.000 Exemplaren erreichte - aber Ende 1932 zu unserer Maßregelung führte. da 'niemand zwei Herren dienen könne'" (21). Als 1931 auf dem Leipziger Parteitag der SPD ein von zehntausenden SPD-Mitgliedern eingereichter Antrag die Abkehr von der Deflationspolitik forderte und Mäder das Wort verlangte, durfte er nicht reden und diese Initiative wurde abgewürgt. ( 22)

Auf die teilweise gute Zusammenarbeit des freiwirtschaftlich orientierten "Ring Revolutionärer Jugend"(RJB) und ihrer Zeitschrift "Der Ring" mit Kommunisten weist Peter Elger hin: "Der 'Ring' ist jedoch das irritierendste Produkt der FFF-Bewegung (Freiland. Freigeld. Freiwirtschaft; d.Verf. ). Der faschistischen Verankerung ist man sich nicht im geringsten bewußt. Im Gegenteil. Das führte so weit, die Kommunisten und revolutionären Anarchisten als Bundesbrüder anzuerkennen (Verbindung lief über Ablehnung des Kapitalismus). Der Unterschied lag in dem anzustrebenden Wirtschaftszustand.(...) Im Februar 1926 wurde der korporative Beitritt des RJR zur Roten Hilfe vollzogen. Im gleichen Monat wurden einhunderttausend achtseitige Tagungsaufrufe für die 3. Ostertagung im März in Kassel in linksorientierten Gruppen (u.a. kommunistische Jugend) verteilt. Auf dieser Tagung stellte der Rotfrontkämpferbund den Saalschutz."(23) Diskussionen und Auseinandersetzungen gab es auch mit dem damaligen KPD-Reichstagsabgeordneten Karl Korsch.

Nach dem 2. Weltkrieg wurden etliche Mitglieder linkssozialistischer Gruppierungen in Hessen, die in der Tradition der SAP und der KPO standen, von Gesellideen beeinflußt, ohne sie in der Regel ganz zu übernehmen. Der Vorsitzende der größten Gruppierung "Arbeiter Partei" (AP) Galm hatte Kontakte zur FSU. Auch in der titoistisch angehauchten "Unabhängigen Arbeiterpartei"(UAP) gab es Gesellanhänger. Spätestens Mitte der 50er Jahre verschwanden diese Gruppierungen vollends von der Bildfläche. (24)

Durch seine Berufung auf Proudhon und Stirner ("Die natürliche Wirtschaftsordnung wird darum auf dem Eigennutz aufgebaut sein."- NWO S.13) in seinen Schriften machte Gesell auch auf Landauer und Mühsam Eindruck: sein Eintreten für den Abbau des Staates machte ihn auch für Anarchisten symphatisch. Da sich die Akteure der Münchener Räterepublik währungs- und wirtschaftspolitisch nicht viel zutrauten, griffen sie zu dem Strohhalm Silvio Gesell und er wurde für wenige Tage Finanzminister. In der anarchistischen Literatur wird folglich sein Name in diesem Zusammenhang nur kurz erwähnt. Viel Zeit hatte er wirklich nicht, sodaß er seine "Reformen" nicht verwirklichen konnte. Im Nachhinnein hatte Gesell alle Mühe, diese peinliche "Entgleisung" seinen in der Mehrheit rechtsgerichteten Anhängern zu erklären. Die offizielle freiwirtschaftliche Geschichtsschreibung hört sich ganz im Sinne Gesells so an:

"Die frevelhafte Inflationspolitik der November-'Sieger' führte zu einem wirtschaftlichen und infolgedessen auch politischen Chaos - auch in München. Auf dessen trüben Wellen kamen linke Revoluzzer - die aber gar nicht wußten, was sie nun praktisch tun sollten - zur Macht. Wie glaubwürdig überliefert ist, suchten sie nach jemandem, der 'etwas vom Gelde verstünde' und einer von ihnen erinnerte sich an einen Silvio Gesell bei Berlin. Man fragte also bei diesem an - und Gesell fuhr nach München." (25)

"Das Experiment von Wörgl"Die nachträglichen Distanzierungen Gesells von der Politik der Räterepublikaner verhinderten aber nicht, daß trotzdem etliche Anarchisten, u. a. auch Erich Mühsam, seiner Freiwirtschaftsidee positiv gegenüberstanden. Ein weiterer Grund für dieses Verhalten ist sicherlich, daß die Gesellanhänger mit "interessanten" Geldexperimenten während der Weimarer Republik aufwarten konnten, als es von anarchistischer Seite im deutschsprachigen Raum nicht mehr viel zu bewegen gab und es bergab ging. In der kleinen Gemeinde Wörgel/Tirol ergriff 1932 der sozialdemokratische Bürgermeister Unterguggenberger die Initiative und gab in Verbindung mit der örtlichen Raiffeisen-Bezirkskasse als Geldersatz Arbeitswertscheine heraus, die einem monatlichen Wertverlust unterlagen. Durch den so bewirkten schnellen Geldumlauf wurde die Wirtschaft der Gemeinde belebt und während des gut einjährigen Experiments bekam ein Drittel der Arbeitslosen wieder Arbeit.

In der Folge von Gedenkveranstaltungen und Festvorträgen "50 Jahre Wörgeler Freigeld" zeigen sich auch heute noch Antroposophen und Ökologen beeindruckt.(26) Von 1926 bis 1931 propagierten die Freiwirtschaftler einen "Geldstreik" und brachten als Privatgeld die "Wära" in Umlauf, die vor allen Dingen von kleineren Kaufleuten benutzt wurde. "Zur Freigeldbewegung bekannten sich verschiedene Experimente mit privaten Verrechnungssystemen: Ausgleichskassen der dreißiger Jahre, der (nach wie vor aktive) Schweizer 'WIR-Wirtschaftsring' sowie die bundesdeutsche ARGO-Organisation (Nordheim) und der SAG Giroverkehr (Vaduz) der fünfziger und sechziger Jahre."(27) Mit einer anarchistischen Gesellschaftsauffassung haben dererlei Geldbewegungen allerdings herzlich wenig zu tun.

Trotzdem versuchen einige Leute Silvio Gesell zum "Marx der Anarchisten" zu machen. In der Nr. 90 der Zeitschrift "883" (28) versprechen sie nicht wenig, was dabei herauskommen soll: "Eine Marktwirtschaft mit wirklichem Wettbewerb, aber ohne Konkurrenz bis aufs Messer, bedingt durch Wirtschaftsmonopole, periodisch wiederkehrende Krisen. Absatzstockungen und Arbeitslosigkeit, aber auch ohne erzwungene tägliche 8-stündige Schufterei in Fabrikzuchthäusern, Büros und Konsumtempeln: eine Marktwirtschaft mit sinnvollen, an den wirklichen Bedürfnissen der Verbraucher orientierten Leistungen, aber ohne Verselbständigung des Leistungsprinzips; eine Marktwirtschaft mit Leistungsgerechtigkeit, die die Ausbeutung jenen, die produktive Leistungen erbringen, durch eine Handvoll parasitärer Kapitalrentner ausschließt: eine Marktwirtschaft ohne Steuerprivilegien für Wohlhabende und Reiche..." ... die es in der zu erstrebenden Zukunftsgesellschaft dieser "Anarchisten" immerhin noch gibt, denn sonst würden sie ja nicht erwähnt.

Ich halte es für ein unmögliches Unterfangen, Gesells faschismusähnliche Ausbeutungswirtschaft mal eben zu einer "anarchistischen Marktwirtschaft" umzufrisieren. Es ist gar nicht die Frage, ob etwa wirtschaftliche Instrumentarien zur Erreichung eines schnelleren Geldumlaufs "richtig" oder "falsch" sein können. Dererlei Techniken schweben nicht wertfrei im luftleeren Raum, um von anarchistischen Theorieproduzenten beliebig aufgegriffen und in ihr Lehrgebäude eingefügt zu werden. Die 883-Anarchisten finden Gesells Theorie interessant und bemerkenswert. Haben an diesem oder jenem noch ein bißchen hinzuzufügen oder zu verändern. Sie schrecken wirklich vor nichts zurück und verlieren dabei den Blick für die politische und soziale Aggressivität, die der unternehmerfreundliche Mittelstand mit Gesells Argumentationshilfe gegen jede sozialistische Bewegung richtet, wenn er seine Privilegien bedroht sieht. Da nutzen auch dumme Anbiederungsversuche in Form einer  35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich nichts!

Die scheinbar plötzliche Popularität von Gesell unter Anarchisten und Grünen sollte Anlaß sein, die Ursachen hierfür zu suchen. Zum Einen ist offensichtlich Gesells Hauptwerk "Die Natürliche Wirtschaftsordnung" in den seltensten Fällen gelesen worden, sodaß man sich auf das verlassen hat, was Gesellanhänger vorgesetzt haben. Zum Zweiten kennen sich offensichtlich nicht viele von uns in volkswirtschaftlichen Fragen aus und überlassen das Gebiet lieber einem Spezialisten, nämlich Gesell.

Wenn von bestimmten Anarchisten einem dahergelaufenen faschistoiden Demagogen die Ausgestaltung unserer wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen überlassen wird, so zeugt das nicht nur von mangelndem Durchblick auf nur diesem Gebiet, sondern stellt auch eine ungeheuerliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar. In Zukunft sollten wir versuchen, die zweifellos vorhandenen richtigen anarchistischen Grundlagen für die heutige Zeit weiter entwickeln und präzisieren, damit solche blamablen Fehltritte nicht mehr passieren und keiner mehr auf die Idee kommen könnte, daß das ganze Spektakel um Gesell irgendetwas mit Anarchismus oder Selbstverwaltungssozialismus zu tun habe. Eine solche Erkenntnis wäre freilich nicht neu, sie hat schon 1927 ausführlich in das FAUD-Organ "Die Internationale" Eingang gefunden:

"Das Freigeld läßt den Unternehmern die Produktionsmittel und läßt ihnen dadurch das Vorrecht, genau so zu verfahren, wie sie es heute auch machen. Die Abschaffung der Ausbeutung bleibt eine Frage der Macht und darüber hínaus eine Frage der Fähigkeit, wieweit die Gesamtheit aller Arbeitenden in der Lage ist, Produktion und Konsumtion nach sozialistischen Grundsätzen zu regeln."

ANMERKUNGEN:

(1) Kurt Kessler: "Mut zur Reform des Geldes". Diagnosen 7/83. Diese immer mehr im rechtsradikalen und obskurantistischen Sumpf versackende Zeitschrift (Titelstory 7/83: "War Hitler ein schottischer Freimaurer?") enthält regelmäßig Artikel von Gesellanhängern.
(2) Ernest Mandel: "Marxistische Wirtschaftstheorie" S.311 und 441
(3) Peter Elger: "Die Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung Silvio Gesells bis Ende der Weimarer Republik." (Diplomarbeit 1978) Seite 69. Diese 270seitige Arbeit ist eine gründliche Aufarbeitung von Silvio Gesells Wirken.
(4) Felix G. Binn: "Keynes passe? - Vivat Friedmann?", mtg Nr.33. Seite 4.
(5) Elmar Altvater:"Der gar nicht diskrete Charme der neoliberalen Konterrevolution." Prokla Nr.44. Seite 13.
(6) Elmar Altvater.siehe 5, Seite 22
(7) Kurt Keßler in "Der Dritte Weg" 10/1980. Seite 8
(8) Peter Elger, siehe 3, Seite 41
(9) "Silvio Gesell - Prophet eines dritten Weges?" Diagnosen 12/1980, S.18.
(10) Peter Elger nennt in seiner Diplomarbeit hierfür Dutzende von Beispiele,  eines davon: "Ab 2. Jahreshälfte 1924 wird unter den Gesellianern die Arbeitsdienstpflicht erörtert. Größtenteils ist man dafür, da nach ihrer Lehrauffassung der Zins durch ungehemmte Arbeit beseitigt wird. Arbeitsdienstpflicht wird als Reichsarbeitsdienst verstanden. Damit gehören die Gesellianer zu den ersten Befürwortern." (Seite 208)
(11) Siehe 7. Seite 9
(12) Hugo Kierdorf in "Glaube und Tat" Nr. 3/1964
(13) "Ultrarechte Tendenzen" bei den Mitgliedern des Arbeitskreises Dritter 3 . Weg NWO? - Eine Stellungnahme von Tristan Abromeit zum Vorwurf des KV Verden. Seite 8. Abromeit bezeichnet sich in dieser Broschüre als Anarchist.
(14) Günter Bartsch:"Anarchismus in Deutschland, Bd.1". Seite 80.
(15) siehe 14. Seite 89
(16) siehe 3. Seite 236
(17) Der Dritte Weg 3/1980. Seite 2
(18) Der Dritte Weg Nr. 9/1979.S. 13
(19) Der Dritte Weg 8/1979. S. 9
(20) Der Dritte Weg 10/11 1983, S.27
(21) Siehe 17, Seite 11
(22) Der Dritte Weg 1/1980 S. 5
(23) Siehe 3. Seite 217
(24) Bernd Klemm:"Die Arbeiter-Partei" SOAK-Verlag
(25) Jedermann Nr. 451, Seite 6 bis 7; Öko-Journal Nr. 5/83, Seite 6
(27) Der Dritte Weg 10/1980. Professor Dr. Oswald Hahn.
(28) 883-Bezug: Rhizom-Buchladen. Eisenacherstr. 57, 1 Berlin 62; 3.- DM.

 

Nachbemerkung:

Wer ein weitergehendes Interesse am Thema hat, beachte auch den ausführlichen Artikel (mit zahlreichen Ergänzungen und Anmerkungen) aus dem Jahr 2013 "Inflation der Worte über Schwundgeld" in der "Graswurzelrevolution" Nr. 37:
http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=127:inflation-der-worte-ueber-schwundgeld&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

Ältere Artikel von mir zum Thema Silvio Gesell:
 
"14 Szenen über Gärtner und Mörder" aus "Ökolinx" Nr. 14 (1994):
http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=133:14-szenen-ueber-gaertner-und-moerder&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

"Marktanarchie contra Sozialstaat? Zum anarchistischen Umgang mit zwei falschen Alternativen" aus "Schwarzer Faden" Nr. 17, 1/ 1985:
http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=135:marktanarchie-contra-sozialstaat&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

 

 

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