Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 231, September 1998

Versuch, Grenzen zu überwinden

Über den istrischen Schriftsteller Fulvio Tomizza im (ehemals) jugoslawischen und italienischen Grenzgebiet

Wenige Kilometer vom Tagungsort der diesjährigen WRl – Dreijahreskonferenz (War Resisters International) entfernt‚ liegt das Heimatdorf des italienisch-slowenischen Schriftstellers Fulvio Tomizza. "Gemeinsam den Frieden wählen" und "Gerechtigkeit nach Krieg und Diktatur" - das Motto und Thema der WRl-Dreijahreskonferenz hat für die Menschen, die an dem Konferenzort leben, nicht erst seit dem Beginn der 90er Jahre eine immer wiederkehrende Aktualität. Porec liegt in lstrien, wo seit vielen hundert Jahren nicht nur ItalienerInnen, SlowenInnen und KroatInnen, sondern auch noch Menschen aus einem guten Dutzend anderen Nationalitäten leben.

Landkarte Triest und IstrienDoch weniger das bunte Vielvölkergemisch stellte ein Hindemis für eine friedliche Entwicklung des Landes dar, sondern die Einmischung von Außen. Istriens Dörfer und Städtchen wurden in den letzten paar hundert Jahren "gestürmt, verteidigt, verpachtet, gekauft, abgetrennt, einverleibt" (1). Unter österreichischer Herrschaft genossen die unterschiedlichen Ethnien bis 1918 noch ein gewisses Maß an kulturellen Freiheiten, wie zum Beispiel Unterricht in den verschiedenen Sprachen an den Schulen.

Für einen unüberhörbaren Paukenschlag sorgte 1919 der italienische Schriftsteller und Truppenkommandant D'Annuncio in Rijeka. Der noch heute vom deutschen Feuilleton vielbeachtete exzentrische rechte Schriftsteller wollte nach dem Zerfall der österreichischen Monarchie Italiens Gebietsansprüche durchsetzen und marschierte mit seinen Schwarzhemden in einer Handstreichaktion ein. Lange vor Mussolinis Kolonialkrieg in Äthiopien im Jahre 1938 zeigte der aufkommende Faschismus sein wahres Gesicht. Die FAZ sieht das heute allerdings ganz anders und verharmloste am 30. 11. 1996: "Kryptofaschismus? Wohl eher die Clownerie eines genialen Performers, der seine Werke im Bündnis mit der Macht inszenieren wollte." Die Bevölkerung Istriens hatte in den vergangenen Jahrzehnten wenig Grund, entspannte feuilletonistische Betrachtungen anzustellen. "Ein einziges Wort genügte für eine ungeheure Nachricht. Anstelle sie mit Kommentaren und Einzelheiten auszuschmücken, flüsterte man sie in allen Dialekten und allen Sprachen, die wir kannten: gvere, guerra, vojska, rat, Krieg." (2)

Derjenige, der dies schrieb, wurde 1935 nur gut 20 km nördlich von Porec, dem Tagungsort der WRl-Konferenz geboren. Dieses Dorf "Materada" wurde Titel des ersten Buches von Fulvio Tomizza. Seine Mutter ist Slowenin, der Vater Italiener, der Heimatort Materada im heutigen Kroatien gelegen, die neue Heimat in Triest/ltalien und seine Ehefrau ist eine Jüdin. Aus dieser vielschichtigen Ausgangslage heraus wurde Tomizza Chronist einer nur ein paar dutzend Kilometer langen Grenzregion, die inzwischen durch mehrere Staatsgrenzen dreigeteilt worden ist. Doch der Anstoß, sich mit den Problemen seiner Region zu beschäftigen, war ein sehr schmerzhafter Persönlicher. Er ähnelt den schrecklichen Erlebnissen vieler Menschen im ehemaligen Jugoslawien in diesem Jahrzehnt: "Für mich war die Zeit nach dem Krieg viel prägender, traumatisierender als der Krieg selbst. Istrien wurde von den Jugoslawen provisorisch verwaltet, und für uns italienische Istrier begann damals die Zeit des Schikaniert, Mißhandelt- und Verhaftetwerdens.

"Italiener in Istrien zu sein bedeutete, einer privilegierten Klasse anzugehören. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich die Slawen dafür revanchieren. Auch mein Vater bezahlte so die Rechnung seiner Vorfahren: Er wurde zweimal verhaftet und mißhandelt. Schließlich starb er im Alter von nur 47 Jahren an den Folgen der Torturen. Ich machte damals gerade Matura und war nach seinem Tod nicht mehr derselbe. Ich wurde depremiert und pessimistisch. Damals fing ich an zu schreiben - um zu verstehen, was in mir und um mich herum passiert ist."(3)

MateradaKrieg, Befreiung und Vertreibung als Dorfgeschichte

In dem Roman "Materada" spiegelt sich in weiten Teilen Tomizzas Familiengeschichte wieder. Bereits im ersten Satz des Romans nimmt er vorweg, was später detailliert ausgeführt wird: "Den Krieg haben wir alle mitgemacht, und die Befreiung auch, die neues Leid und neues Elend mit sich brachte..."(4).Tomizza beschreibt die prekäre Lage der ca. 250.000 ItalienerInnen im Jahre 1954, die größtenteils Haus und Hof im neuen Staat Jugoslawien verlassen, um mittellos in Italien einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen. Die großen politischen Ereignisse sind eingebettet in einen heftigen Familienstreit, in dem der Ich-Erzähler die landwirtschaftlichen Erträge des Hofes seinem Onkel für einen minimalen Lohn abgeben muß - ohne Aussicht, den Hof später einmal erben zu können. Durch ein Arrangement mit den "tiniti" (TitoanhängerInnen) wäre ein zweifelhafter Ausweg möglich, wenn das Land dem sozialistischen Staat überschrieben würde. Auf diese Weise verlöre er seinen Anspruch auf das Land und würde für immer in den Status eines vom Staat bezahlten Tagelöhners zurückfallen.

Für den Protagonisten im Roman sowie für den Großteil der ItalienerInnen kam so etwas nicht in Frage. Sehr nachvollziehbar beschreibt Tomizza, wie die Menschen zunächst nicht wissen, was sie tun sollen und hin- und herschwanken. Der Riß ging durch die Menschen selbst und durch die Familien sowieso. Übergriffe der TitoanhängerInnen auf italienische Familien und erste Unzufriedenheiten mit den Kollektivierungen forcierten die Spannungen. Immer mehr Menschen verließen unfreiwillig ihre Heimat. Die Übriggebliebenen feierten in der Abschlußszene ein letztes Mal, bevor auch sie verschwinden, die Messe, halten auf dem Friedhof die Prozessionsfahne hoch. "Ein halber Hektar von dieser Erde ohne Steine hatte für alle genügt; er hätte auch noch für uns und unsere Kinder genügt." (5)

Erst 1993 wurde dieser bereits 1960 in Italien gedruckte Roman in Deutschland veröffentlicht, weil offensichtlich der Verlag ein gesteigertes Interesse wegen der Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien vermutete. Ähnliches gilt auch für Tomizzas zweiten Roman "Die fünfte Jahreszeit" (1965 in Italien, 1997 in Deutschland veröffentlicht).

In ihm erlebt ein kleiner Junge, wie sich in seinem istrischen Dorf ganz allmählich die teilweise militärischen Auseinandersetzungen bemerkbar machen. In dieser "fünften Jahreszeit" spielt auch er mit seinen Kameraden Krieg, ohne recht zu verstehen, warum im schnellen Wechsel faschistische Truppen und kommunistische Partisanen die Gegend unsicher machen. Die Dorfbevölkerung versucht, mit heiler Haut davonzukommen. Die bisherige friedliche Koexistenz der Ethnien wird auf eine Belastungsprobe gestellt. Tomizza ergreift für keine der verschiedenen Seiten Partei, sondern beschreibt die unterschiedlichen individuellen Verhaltensweisen und Schicksale der hier lebenden Menschen. Beim Lesen fällt immer mehr auf, daß die jeweiligen VertreterInnen der Nationalitäten auch heterogene Interessen hatten und daß es hier keine sich grundsätzlich fremd gegenüberstehende, in sich geschlossene Volksgruppen gab.

WRI-Dreijahreskonferenz, 1998Noch weiter in die Geschichte zurück geht Tomizza in seiner Bauernsaga "Eine bessere Welt". In ihr beschreibt ein alter Messner chronologisch das zum Teil sehr unterschiedliche Wirken von sieben Pfarrern in seiner Gemeinde. Zur Sprache kommen auch hier die vielen kleinen Dinge des täglichen Lebens, die oft unbeachtet bleiben, wenn es um die große Politik geht. In einem Interview betonte Tomizza: "Die wichtigste Person im Dorf war der Pfarrer. Wenn der Kroate war, wählten alle die kroatische Liste; war er Italiener, hat die italienische Partei gewomien. Das war die Kunst der armen Leute, sich anzupassen."(6)

Besonders gut herausgearbeitet hat Tomizza, wie sich die Konflikte zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen nach dem zweiten Weltkrieg auf der Ebene der persönlichen Beziehungen auswirkten. "Noch passierten bei uns keine schlimmen Dinge. In der Pfarrei äußerten sich die gegensätzlichen Fronten (wobei viele unschlüssig dazwischenstanden) zunächst in einem brütenden Groll, der manchmal geradezu alberne Formen amrahm: Schon ein unentschiedenes oder ganz unterlassenes Grüßen bei Begegnungen löste übertrieben empfindliche Kommentare (...) aus." (7)

Mit atemberaubender Geschwindigkeit spitzten sich die Konflikte zu und wurden in dem Maße verstärkt, wie die rivalisierenden Staaten um ihre Einflußphären und Gebietsansprüche einen fanatischen Machtpoker betrieben. "Wir befanden uns im Krieg, immer wieder im Krieg um die ewige Frage, ob wir Italiener oder Slawen seien, und dabei waren wir in Wirklichkeit doch nur Bastarde." (8) Für Tomizza konnte es aus diesem Grunde keine nationalstaatliche Lösung "in einem Grenzgebiet (geben), in dem jede Eroberung auf der einen Seite immer zu Lasten der anderen gehen mußte."(9)

Perspektivwechsel: Roman aus der Sicht der "Anderen"

Fulvio Tomizza "Die venezianische Erbin"Hatte Tomizza - selbst eher dem italienischen Kulturkreis zugehörig - bisher seine Romane aus der Sicht italienischer Protagonisten geschrieben, änderte er dies 1986 mit seinem Roman "Das Liebespaar aus der Via Rossetti". An Hand von sehr persönlichen Briefen zwischen einem in Triest beheimateten slowenischen Paar beschreibt er die Geschichte der slowenischen Minderheit in dieser Stadt zur Zeit des Faschismus. Sie sollte aufgrund ihrer Randlage nach dem Willen des herrschenden Regimes italienischer als Italien selbst sein. Trotz Unterdrückung entsteht bei den Slowenen keine einheitliche Gegnerschaft zum Faschismus. Von KollaborateurInnen über MonarchistInnen bis zu KommunistInnen haben alle ihre eigenen Vorstellungen. Von 1965 bis 1987 erhielt Tomizza die 10 wichtigsten italienischen Literaturpreise. Danach wurde sein Werk in Italien immer weniger beachtet. Als Chronist der Verdrängung der ItalienerInnen wurde er gerne gefördert, aber nachdem er auch den Slowenen seine Stimme geliehen hatte, ebbte dieses Interesse deutlich ab. Dafür widmete man ihm in Deutschland und Österreich größere Aufmerksamkeit. Viele wichtige Bücher von ihm wurden erst ab jetzt in die deutsche Sprache übersetzt. Es dauerte nach dem zweiten Weltkrieg noch ganze neun Jahre, bis in dieser Grenzregion durch international anerkannte Verträge für einen längeren Zeitraum klar war, daß die Stadt Triest Italien zugeschlagen wurde, ihr Hinterland und Istrien aber zu dem neugegründeten Jugoslawien gehören sollte. In Triest lebten noch ca. 60.000 SlowenenInnen, die von der Mehrheit der italienischen Gesellschaft herablassend behandelt wurden. In Jugoslawien blieben nach der Massenflucht nur noch 28.000 ItalienerInnen.

Mittelosteuropäischer Regionalismus im Widerstreit der Interessen

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurde Triest von vielen Intellektuellen als "literarische Hauptstadt in Mitteleuropa", so der Titel des 1987 erschienen Buches von Angelo Ara und Claudio Magris, entdeckt. Zum Einen faszinierte das kulturelle Leben in dieser Stadt. Svevo, Saba, Joyce, Freud und Andere lebten (zumindest zeitweilig) hier und hinterließen ihre Spuren. Zum Anderen entstand später mit dem Zerfall Jugoslawiens und des Ostblocks eine neue politische Situation, aus der die Möglichkeit oder Notwendigkeit eines neuen, zivilisierten Zentrums in "Südost- Mitteleuropa" gesehen wurde - was immer das auch bedeutete.

Triest, Istrien und sogar Julisch-Venetien haben nach Meinung von Tomizza nicht nur historisch-kulturelle Gemeinsamkeiten, sondern stellen ebenfalls einen durch Grenzen zerrissenen Wirtschaftsraum dar. Auch in Deutschland berichtete die grünennahe Zeitschrift "Kommune" vorsichtig sympathisierend über die Diskussion um dieses Mitteleuropa. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" sah in ihrer Zeitschrift Pogrom (10) in dem Grenzgebiet eine "Euroregion", die sich gegen Zagreb und Rom wehrt. Die neurechte "Junge Freiheit" betonte das "istrische Eigenbewußtsein" (11) - und die ehemalige Zugehörigkeit der Region zu Österreich!

Tomizza wies schon 1979 in seinem Vorwort zu "Eine bessere Welt" auf das ursprünglich geplante "Freie Territorium" hin, das 1954 aber von Italien und Jugoslawien endgültig aufgeteilt wurde. "Hingegen waren es gerade die Leute aus meiner Gegend, die von der Möglichkeit eines Kleinstaates mit Triest als Zentrum träumten, der Stadt, der sie sich zugehörig fühlten und mit der sie alle Schicksale geteilt hatten. Für den Großteil dieser Leute war die Lostrennung Triests von Jugoslawien der hauptsächliche Grund, über der Grenze zu gehen. Zu diesen Leuten gehörte auch ich. Ich war damals zwanzig Jahre alt." (12) Die aktuellen Rahmenbedingungen für eine Eigenständigkeit stellte Tomizza 1994 wie folgt dar: "Die Bestrebungen der Istrier, sich innerhalb einer ethnisch und kulturell pluralistischen Region, die auf das Europa der Nationen blickt und in der die Marktwirtschaft infolge eines beachtlichen Zustroms von Touristen recht ausgeprägt ist, selbst zu regieren, wurden von den Gründern der politischen Bewegung "Dieta Democratica Istriana" aufgegriffen, die bei den Wahlen 1992 zweiundsiebzig Prozent der Stimmen erhielt."(13)

Eine solche Entwicklung würde allerdings letztendlich darauf hinauslaufen, daß im wirtschaftlichen Wachstum befindliche Regionen stärkeren Anschluß an die kapitalistischen Märkte erhielten und die daraus entstehenden Vorteile für sich alleine nutzen würden. Die rechtsgerichtete "Lega Nord" aus Italien ist solch ein Beispiel, wie regionaler Egoismus breite gesellschaitliche Kreise erfaßt.

Lothar Baier brachte es in seinem Artikel "Abschied vom Regionalismus" auf den Punkt, indem er schrieb: "Die Befreiung, um die es den Lombardischen und anderen Ligen geht, ist die Befreiung von der Verpflichtung, die Kosten der Modernisierung, von der die reichen Zonen profitieren, in anderen Regionen mitzutragen."(14) Ohnehin wurde das System der kapitalistischen Ökonomie von den Anhängem der multiethnischenWirtschat- und Kulturregion Triest/Istrien kaum infrage gestellt. Es würde in letzter Konsequenz ein Kleinstaat entstehen, dessen Privatwirtschaft zwar expandiert und Profite einfährt, aber im Schlepptau der neuen europäischen Großmacht Deutschland schwimmen müßte. Dies würde auch das Interesse der Neurechten in Deutschland an dieser Region erklären.

Doch zunächst einmal haben in dieser Region die bestehenden Nationalstaaten das Sagen und kümmern sich nicht ohne Hintergedanken um die unterdrückten Minderheiten im jeweiligen Nachbarstaat. Als ideologischer Ableger von Haiders FPÖ ließ es sich auch in diesem Jahr die "Junge Freiheit" nicht nehmen, das ach so bedrohte Deutschtum in Slowenien publizistisch auszuschlachten, obwohl sich bei einer Volkszählung im Jahre 1991 nur 1544 Menschen als Deutsche bezeichnet hatten (15). Zufrieden stellte die neurechte Wochenzeitschrift fest, daß Österreich auf Antrag der FPÖ zwei Millionen Schilling zur sogenannten Pflege des Kulturerbes der "Alt-Österreicher" ausgeben wird (16). In Italien demonstrierten die dortigen Faschisten offen für den Anschluß der "Ostgebiete" an Italien. Das weis natürlich Tomizza nur zu gut. Über seine Aufenthalte in Istrien sagte er 1993 in einem Interview:

"Das war eine sehr demütige Rückkehr, eine Rückkehr auf Zehenspitzen, eine Rückkehr, die niemals irgendwelche Rechte beansprucht hat; ich bin ein Gast in Istrien, auch wenn ich das Haus gemeinsam mit meiner Großmutter, die jugoslawische Staatsbürgerin war, gekauft habe." (17)

Die Vergangenheit ist nicht vergangen

Der Versuch der Einbeziehung von Triest und Istrien in den Herrschaftsbereich Deutschlands hat Tradition. Ara und Magris wiesen darauf hin, daß er im Jahre 1943 unter faschistischer Herrschaft besonders konsequent erfolgte: „Durch die Proklamation der Operationszone "Adriatisches Küstenland", die dem Gauleiter von Kärnten, Friedrich Rainer, unterstellt ist. Hinter dieser Abhängigkeit steht die kaum verhohlene Absicht, die Stadt und ihr Hinterland dem politisch-ökonomischen System Großdeutschlands einzuverleiben. (...) In Triest existiert(e) das einzige Konzentrationslager auf italienischem Boden." (18) Scheinbar aus der Perspektive des neutralen Beobachters berichtete 1994 die rechtsradikale Zeitschrift "Junge Freiheit" über immer lauter werdende italienische Stimmen, "die einen besseren Minderheitenschutz ihrer in Istrien lebenden Landsleute fordern."(19) Unerwähnt bleibt in dem langen Artikel, daß auch die slowenische Minderheit im italienischen Triest in der Vergangenheit Repressalien ausgesetzt war und auch heute noch benachteiligt wird. Stattdessen wurden in der "Jungen Freiheit" touristische Erinnerungen der deutschen Urlauber an Istrien zum Ausgangspunkt des Berichts gemacht, um anschließend die "österreichische Vergangenheit" dieses Landstrichs zu betonen; "Pula wurde zum wichtigsten österreichischen Kriegshafen." Zum Schluß versäumte diese Zeitschrift nicht hervorzuheben, daß die politische Situation weiterhin nicht von Ruhe geprägt sein wird - "auch nicht in der Etappe Istrien." Etappe ist ein etwas veralteter Ausdruck aus dem Militärbereich für ein Versorgungsgebiet hinter der Front kämpfender Heere. Wie verräterisch doch Sprache sein kann.

Mit der Betonung auch dieser "Nationalitätenfrage" wollte die "Junge Freiheit" an diesem Beispiel erneut aufzeigen, daß "die Völker" fast überall noch so manche Rechnung aus der Vergangenheit heraus zu begleichen hätten - warum nicht auch die Deutschen? Mit dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" wurde der gespenstische Reigen der gegenseitigen Gebietsansprüche, der offenen Drohungen und Erpressungen, der fragwürdigen Schadenersatzforderungen für vor 40 oder 50 Jahren verlassenem Eigentum tempomäßig beschleunigt und erhielt eine neue Qualität.

Wie das im Fall Istrien konkret aussah, beschrieb die "Junge Freiheit" anläßlich eines Treffens der "Mitteleuropa-Initiative", indem sie die Forderung eines italienischen Staatssekretärs genüßlich wiedergibt: "Slowenien müsse innerhalb der kommenden drei Monate sämtliche Besitztümer der knapp 300.000 Italiener zurückerstatten, die nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet worden sind. Falls dies nicht geschehe, werde Italien, so jedenfalls Caputo, sämtliche Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Laibach blockieren." (20)

Die "Junge Freiheit" stellte 1994 den aktuellen Zuzug von geflüchteten Kroaten aus Bosnien umstandslos als Bedrohung der "Identität" der Istrier dar. Tomizza weist jedoch in seinen Büchern immer wieder daraufhin, daß lstrien seit Jahrhunderten ein Zuzugsgebiet von Flüchtlingen aus dem Balkan Lmd Italien war. "Sie alle assimilierten sich allmählich, Ehen wurden geschlossen, und es entstanden die vielfältigsten Beziehungen." (21) Das ethnisch "Besondere" ist nach Tomizza kein Wert an sich. Vielmehr sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, Impulse Anderer aufzunehmen, die Grundvoraussetzung für ein gleichberechtigtes Zusammenleben in einem ethnisch durchmischten Grenzgebiet. In seinen Romanen betont er, daß es in seiner Heimatregion in lstrien nicht "die" slowenische Sprache gibt, sondern höchstens Eine, "die sich stärker dem Slowenischen näherte" (22).

Die Geschichte seines Landes erlebte er bisher als "eine Folge von Racheakten und Repressalien (...), die immer dann um sich griffen, wenn eine der Volksgruppen an der Macht war" (23). Folglich machte der Pendler zwischen Triest und dem nahegelegenen Materada die unangenehme Erfahrung: "Sobald Slowenien seine Unabhängigkeit verkündet hatte, hat sich der souveräne Staat abgeschlossen und eine Grenze zwischen Slowenien und Kroatien errichtet.(...) Und wenn ich heute nach Materada, wo ich noch ein Haus habe, fahren will, muß ich viermal meinen Paß vorzeigen"(24).

In seiner Kurzgeschichte "Die Entblößung"(25) beschrieb Tomizza eindrucksvoll und mit einem tiefen Blick in die menschliche Psyche, wie entwürdigend die Behandlung an der Grenze sein kann - insbesondere dann, wenn man gezwungen wird, sich nackt auszuziehen. Der von ihm selbst geforderte Abbau der Grenzen zwischen den neu entstandenen Staaten durch die Etablierung von noch Kleineren ist meiner Meinung nach keine Lösung des Problems. Machtabbau auf allen gesellschaftlichen Ebenen, die Einübung in gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien und die von Tomizza beschriebene intensive Kooperation zwischen den verschiedenen Ethnien, die es ja gab und teilweise noch gibt, zeigen wohl eher einen Ausweg, als der Rückfall in Kleinstaaterei.

Der Verzicht auf einen letztendlich immer noch territorial determinierten Lösungsversuch würde ihn vor manch einer Illusion und Enttäuschung bewahren, denn die Vorstellungen der "Dieta Democratica Istriana" hatten im autoritär regierten Kroatien keine Chance. Die Wahlkreise wurden neu zugeschnitten und Tomizza mußte resümieren: "Doch dann haben sich die Politiker zerstritten, neue Fraktionen gegründet, und bei den letzten Wahlen hatten sie nur mehr eine Mehrheit von 42 Prozent. Das alles enttäuscht mich zutiefst ...."(26).

Tomizza wurde durch seine Romane und Kurzgeschichten auch zum Sprachrohr der Vertriebenen. Dennoch sind sie ohne Haß geschrieben worden. Er stellt sich nicht bedingungslos auf die eine oder andere Seite der KontrahentInnen, sondern ist um Ausgleich und Verständigung bemüht. Dies machte ihn für die sich gegenseitig bekämpfenden Hardliner suspekt. Seine Leser werden mit unterschiedlichen Interessen und komplizierten Beziehungsgeflechten bekanntgemacht, ohne deren Kenntnis und Berücksichtigung es schwerfallen wird, zu so etwas wie Frieden und Gerechtigkeit in diesem Landstrich beizutragen.

Anmerkungen:

1. Stephan Vajda in der Reihe "Europa Erlesen": "Istrien", Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec, S. 94, 19,80 DM. Insgesamt 252 Seiten. Durch zahlreiche Erstübersetzungen, die über bereits Bekanntes hinausgehen, gibt der Herausgeber einen umfassenden und facettenreichen Überblick über Literatur, Geschichte und die aktuelle politische Lage lstriens. Das in der gleichen Reihe erschienene Buch "Triest" ist als Einstieg ebenfalls lesenswert.

2. Fulvio Tomizza: "Eine bessere Welt", Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1979, S. 100 3. "Falter" Wien, 1997, Nr. 27

4. Fulvio Tomrizza: "Materada", Hanser Verlag, München, 1993, S. 7

5. siehe Anm. 4. S. 186

6. siehe Anm. 3

7. siehe Anm. 2, S. 249

8. siehe Anm. 2, S. 256

9. siehe Anm. 2, S. 83

10. "Pogrom", Nr. 174, 1993/94, S. 25

11. "Junge Freiheit", 13. 5. 1994, S. 8

12. siehe Anm. 2, S. 9

13. "Du", Zürich, Nr. 10, 1994, S. 90

14. "Freibeuter", Berlin, Nr. 49, 1991, S. 16

15. "Jungle World", Nr. 46, 13. 11. 1997, S. 21

16. "Junge Freiheit", 10. 7. 1998, S. 8

17. "Die Presse", Wien, 6. 3. 1993

18. Agelo Ara, Claudio Magris: "Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa", Hanser Verlag, München, 1987, S. 190

19. siehe Anm. Nr. 11

20. "Junge Freiheit", 22. 7. 1994, S. 8

21. siehe Anm. 2, S. 8

22. siehe Anm. 2, S. 23

23. "Evangelische Kommentare" Nr. 2, 1992, S. 92