Aus: "Anarchismus – Was ist das?" Broschüre, 1978
Die autoritäre Arbeiterbewegung in Deutschland, der Marxismus und die SPD
Um zu sehen, wie die anarchistische Bewegung in Deutschland entstanden ist,ist es notwendig, die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung etwas genauer zu betrachten. Der bedeutende anarchosyndikalistische Theoretiker Rudolf Rocker - auf dessen Schriften sich meine folgenden Ausführungen im Wesentlichen stützen - hat die deutsche Arbeiterbewegung wie ich meine sehr treffend beschrieben:
"Ohne Zweifel lag der ganzen sozialistischen Bewegung in Deutschland von Anfang an ein streng autoritärer Zug zugrunde, welcher ihre spätere Entwicklung in hohem Grade begünstigte" (S. 43) In Deutschland gab es keine starke, aus dem Kampf mit dem Absolutismus hervorgegangene liberale Bewegung wie in Frankreich. "Was sich in Deutschland liberal und demokratisch nannte, war eine buntgemischte Gesellschaft, die sich immer wieder von den Sachwaltern des Absolutismus breitschlagen ließ und jeder ernsten politischen Entscheidung ängstlich aus dem Hege ging" (S. 44).
So kam es, daß die deutsche Sozialdemokratie nach dem Fall des Sozialistengesetzes allmählich auch zum großen Sammelbecken einer Menge bürgerlicher Gruppen wurde, die für die eigentlichen Bestrebungen des Sozialismus wenig oder gar nichts übrig hatten und sich der Bewegung nur deshalb anschlossen, weil ihnen die alten Parteien nicht mehr genügten oder weil sie in dem neuen Lager bessere Gelegenheit fanden‚ihren persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen.
Je mehr die sozialistische Bewegung in die Breite wuchs, je größere Wahlsiege sie zu verzeichnen hatte, desto maßgebender wurde der Einfluß dieser Schicht. Diese aus dem Lager des deutschen Bürgertums abgewanderte Kaste, die auf Grund ihrer Abstammung eine bessere Ausbildung genossen hatte, als die große Mehrheit der Arbeiter und sich infolgedessen für die Vertretung in den Parlamenten und andere wichtige Posten, welche die Partei zu vergeben hatte, besser eignete, fand besonders in dem Beamtentum der Gewerkschaften, dessen Bestrebungen ausschließlich auf die Kleinarbeit des Tages eingestellt waren, eine Stütze.
Mutlose Millionen
"Es ist bezeichnend, daß eine Partei, deren Anhänger im Volke nach Millionen zählten und die im Laufe der Jahre eine Organisation aufgebaut hatte, wie sie vielleicht nie in der Geschichte einer anderen Bewegung zur Verfügung stand, in der ganzen Zeit ihres Bestehens sich nie dazu entschließen konnte, einen ernsten Versuch zu wagen, die schmählichen politischen Zustände im Reiche umzugestalten und einer, wenn auch nur bürgerlichen, Demokratie den Weg zu bahnen. Wenn man erwägt, was viel kleinere Bewegungen in den meisten Ländern Westeuropas auf diesem Gebiete zustande brachten, so wirkt diese Tatsache geradezu beschämend.
Sogar so verrottete und schmachvolle politische Einrichtungen wie das DreiklassenWahlrecht in Preußen, das einem Bordellbesitzer auf Grund der Einkommenssteuer eine Vertretung gewährte, die sie dem schlechter bezahlten Arbeiter verweigerte, und die berüchtigte preußische Gesindeordnung, welche Dienstboten und Feldarbeiter noch immer als Hörige behandelte und unter das Joch eines in allen anderen Ländern längst überwundenen Feudalrechts zwang, erhielten sich im größten deutschen Staate bis zum Ende des 1. Weltkrieges" (S. 47).
"Eherne Gesetze" des Marxismus führen zur Passivität
Rocker weist nach, daß eine bedeutende Ursache des Niederganges der deutschen Arbeiterbewegung in der Hinwendung zum Marxismus bestand:
Bei dem internationalen Sozialistenkongress in Brüsses im Jahr 1891 z. B. wurde besonders die Frage, wie man der Gefahr eines herannahenden Weltkrieges begegnen könnte, erörtert. Die Marxisten haben bei diesem Kongess einen Antrag eingebracht, der hervorhob, daß der Militarismus eine unvermeidliche Folge des kapitalistischen Ausbeutungssystems sei. Deswegen sei einzig und allein eine sozialistische Gesellschaftsordnung imstande, den Krieg abzuwenden. Demzufolge müssten sich alle, die den Krieg ablehnen,der einzigen und grundsätzlichen Friedenspartei anschließen: der SPD. Zum Schluß erklärte die Resolution, daß die Verantwortung für die Katastrophe eines Weltkrieges vor der Menschheit und vor der Geschichte allein den herrschenden Klassen zufalle. Rocker dazu:
"Im Grunde sagte diese Entschließung überhaupt nichts, was zu einem praktischen Versuch der Arbeiterklasse zur Verhinderung des Krieges Bezug hatte. Ihr fatalistischer Gedankeninhalt konnte nur dazu beitragen, daß sich die Arbeiter mit dem furchtbaren Übel als mit einer unvermeidlichen Tatsache abfanden und die Beseitigung des Krieges der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft überließen.
Kein Wort, das die Arbeiter daran erinnerte, daß ohne ihre Mitwirkung als produzierende Klasse der Krieg unmöglich war. Es kam den Verfassern jener Entschließung überhaupt nicht zu Bewußtsein, daß sie mit ihrer Stellung jede praktische Bedeutung der Arbeiterbewegung für die notwendigen Aufgaben der Gegenwart in Abrede stellten. Denn schließlich konnte man Jedes soziale Gebrechen auf die Existenz der kapitalistischen Gesellschaft zurückführen.
Maulheldentum und Rechthaberei
"Mit Schlagwörtern, die nichts besagten, täuschte man anderen eine revolutionäre Gesinnung vor, wo nur Philisterdumpfheit und Unfehlbarkeitsdünkel zu Hause waren. Sie haben Haare gespalten und Mücken geseit, anstatt im Volke das Gefühl der menschlichen Würde und den lebendigen Glauben an die eigene Kraft zu erwecken, die gerade in Deutschland, wo es an revolutionären Überlieferungen fehlte, nötig waren. (...)
Die Deutsche Sozialdemokratie hat nichts getan, um das Volk zum Handeln anzuregen, seine Zuversicht zu stärken und ihm den Mut zur Tat einzuflößen. Sie begnügte sich sich mit Redensarten und Wahlerfolgen, mit denen man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken konnte. In Belgien und Schweden brachte die sozialistische Arbeiterschaft immerhin den Mut auf, zum Mittel des politischen Massenstreiks zu greifen, um die Regierung zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu nötigen. In Preußen aber sträubte sich die große Mehrheit der sozialistischen Führerschaft zum gleichen Mittel zu greifen. Sie unterstützte die belgische Arbeiterschaft in ihrem Kampfe mit großen Summen; sie selbst aber wagte nicht, im eigenen Lande dieselben Wege zu beschreiten. (...)
Klassenkampf-Phrasen
In keinem Lande wurde so viel und bis zum Überdruß von Klassenkampf und Klassenbewußtsein gesprochen, wie gerade in Deutschland. Und doch ging man nirgends jeder ernsthaften Entscheidung so behutsam aus dem Wege wie hier. Nur so läßt es sich erklären, daß in einem Lande, das über fünf Millionen politisch und gewerkschaftlich organisierter Arbeiter zählte, und wo noch kurz vor dem Siege des Faschismus rund zwölf Millionen sozialistische und kommunistische Stimmen abgegeben wurden, ein Hitler die Macht an sich reißen und im Handumdrehen die gesammte Arbeiterbewegung zertrümmern konnte, ohne daß sich auch nur ein Finger dagegen rührte. In Italien brauchte Mussolini immerhin zwei volle Jahre, bis er mit der Arbeiterbewegung fertig wurde. (...)
Die ganze Art unseres Denkens war noch zu sehr in dem feinen Geäste toter Begriffsbildungen verstrickt, die für die sozialistische Gedankenwelt in Deutschland so bezeichnend waren. Wir sahen alle Dinge in einem besonderen Lichte und waren für Jede andere Anschauung einfach farbenblind ..." (S. 51).
Die Entstehung des Anarchismus in Deutschland
Es gab natürlich auch viele Menschen, die dem Zentralismus, dem Parlamentarismus und dem autoritären Marxismus skeptisch gegenüberstanden. 1897 wurde die "Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften" (auch Lokalisten genannt) gegründet. Sie hatte vor Ausbruch des Krieges 8.000 Mitglieder. Die Lokalisten hatten sozialdemokratische Anschauungen, doch unterschieden sie sich durch den föderalistischen Charakter ihrer Organisation von den großen gewerkschaftlichen Zentralverbänden.
Die Führer der gewerkschaftlichen Zentralverbände, die in der SPD einen immer größeren Einfluß bekamen, setzten durch, daß sich die Lokalisten innerhalb eines Jahres den Zentralverbänden anzuschließen hätten. Andernfalls würden sie aus der SPD ausgeschlossen. Ein Teil ging in die Zentralverbände‚ ein anderer Teil machte als "Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften" weiter und entwickelte sich immer mehr zum Syndikalismus.
Nach dem 1. Weltkrieg gründete diese Organisation ‚ zusammen mit anderen kleinen Gruppen die "Freie Arbeiter Union Deutschlands" (FAUD) und erreichte einen Mitgliederbestand von 120.000. In den Arbeiterbörsen, dem Herz der anarchosyndikalistischen Bewegung, spielte sich neben der Diskussion um Gewerkschaftsaufgaben das kulturelle, kommunikative und teilweise das familiäre Leben der in der FAUD organisierten ab.
1922 hatte die FAUD 410 Ortsvereine (kleinste Einheit der Organisation). Außerdem gab es folgende Industrieföderationen: Bergarbeiter, Bauarbeiter‚ Metallarbeiter, Holzarbeiter, Arbeiter im Bekleidungs- und Verkehrsgewerbe. Die FAUD entwickelte sich schnell weiter und hatte auf dem Höhepunkt ihrer Organisationsgeschichte 200.000 Mitglieder. Neben der Verbandszeitung "Der Syndikalist" gab es noch folgende Publikationen: "Die schaffende Frau" (monatlich), "Der Arbeitslose" (14-tägig) , "Proletarisches Kinderland" (14-tägig), "Junge Anarchisten" (anarchosyndikalistische Jugend), die "Internationale" (ab 1927 für theoretische Fragen). Die einzelnen Industrieförderationen hatten ihre eigenen Blätter; verschiedene Kulturzeitungen gab es auch noch.
Die FAUD war Mitglied der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA). Die IAA war der internationale Zusammenschluß der Anarchosyndikalisten und nicht eine Vereinigung von politischen Pareien. 1922/23 hatten die Landesverbände der IAA folgenden Mitgliederbestand (Auszug): Argentinien 200.000, Italien 500.000‚ Portugal 150.000, Schweden 22.000‚ Spanien 1.000.000, Frankreich 100.000, Norwegen 3.000, Holland 22.500, Chile 20.000. 1933 wurde die FAUD von Faschismus zerschlagen.
Anmerkungen
Die von mir im Selbstverlag 1978 herausgegebene zwölfseitige kleine Broschüre "Anarchismus – Was ist das?" hatte eine Auflage von 500 Exemplaren. "Die autoritäre Arbeiterbewegung" ist ein Kapitel aus diesem Heft. Die längeren Zitate von Rudolf Rocker entstammen folgendem Buch:
Rudolf Rocker: "Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten", Suhrkamp Verlag, 1974, 400 Seiten
Es ist durchaus erstaunlich, wie wenig sich im Laufe der Jahrzehnte, ja der Jahrhunderte, geändert hat.
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