Aus: "Schwarzer Faden", Nr. 10, 1983

Linkssozialisten in Europa

Schwerpunkt: Die Parti Sozialiste Unife (PSU) in Frankreich und ihre Bedeutung für die BRD

Der Aufschwung der Grünen und die mit ihnen im Zusammenhang stehende Debatte über den Stellenwert von außerparlamentarischer und parlamentarischer Arbeit wird in vielen Diskussionen der undogmatischen Linken in der BRD in der Regel nur auf den jetzigen Augenblick hin diskutiert. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist in fast allen anderen europäischen Ländern bereits in den 60er und 70er Jahren gelaufen.

LinkssozialistenEs handelte sich hierbei um Organisationen außerhalb der offiziellen kommunistischen und sozialistischen Parteien, die sich unter dem Eindruck der Maiereignisse 1968 in Frankreich die Frage stellten, wie die spontane Erhebung breiter Bevölkerungskreise gegen bestehende Unrechtszustände mit einer verbindlicheren und über einen längeren Zeitraum bestehenden Organisation zur Sicherung erkämpfter Positionen unter einen Hut gebracht werden könnte.

In Italien‚ Norwegen‚ Dänemark, Niederlande‚ Portugal und Frankreich entstanden eigenständige linkssozialistische Parteien, in denen trotzkistische, spontaneistische‚ maoistische‚ libertäre, linkssozialdemokratische und linkskommunistische Gruppen mal mehr, mal weniger Einfluß ausübten. In der BRD blieben diese Parteien nahezu unbekannt und es ist das Verdienst des Junius-Verlages eine intensivere Auseinandersetzung zu diesem Thema mit der Herausgabe des Buches "Linkssozialisten in Europa" möglich gemacht zu haben.

Es ist sicherlich nicht zufällig‚daß das Erscheinen dieses Buches in eine Zeit fällt‚ in der mit den Grünen das herrschende Parteiensystem aufgebrochen wird. Allerdings weisen die Linkssozialisten einige Unterschiede gegenüber den Grünen auf: Da sie größtenteils aus Abspaltungen der sozialdemokratischen oder kommunistischen Parteien entstanden sind, verstehen sie sich als Teil der Arbeiterbewegung und sehen die Notwendigkeit, eine Verbindung zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen und den Arbeitern herzustellen.

Die linkssozialistischen Parteien sind locker organisiert, lehnen Avantgardismus ab und versuchen neuere sozialistische Theorien mit emanzipatorischem Inhalt aufzugreifen. Parlamentarische wie erklärtermaßen außerparlamentarische Arbeit wird geleistet, wobei die zum Teil heftigen Diskussionen hierüber entscheiden, worauf das Schwergewicht gelegt wird.

Libertäre Tendenzen gab oder gibt es bei den Linkssozialisten in größerem Ausmaß. Interessant ist, daß dort, wo vor dem 2. Weltkrieg starke anarchistische Bewegungen existiert haben, sich dies in den linkssozialistischen Parteien nach dem Kriege niedergeschlagen hat, während die eigentliche anarchistische Bewegung fast von der Bildfläche verschwunden ist.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die PSU (Parti Socialiste Unife) in Frankreich, deren Entwicklung ich näher darstellen möchte. Die bis zum 1. Weltkrieg bestehende große anarchosyndikalistische CGT (jetzt ist sie allerdings kommunistisch) hat dafür gesorgt, daß das Mißtrauen gegen Hieraehien und das Wissen um die Wirksamkeit der direkten Aktion als Kampfform auch in neuerer Zeit bei vielen Menschen immer noch eine wichtige Rolle spielt.

Schon während der Algerienkrise arbeiteten verschiedene sozialistische Gruppen zusammen und gründeten 1960 die PSU. Für die Einen sollte mit ihr die Einheit der linken Kräfte erreicht werden, während die Anderen in ihr die Möglichkeit zur grundsätzlichen Erneuerung der Linken sahen. Bei den Wahlen erhielt die ca.16.000 Mitglieder zählende PSU 2,3 % der Stimmen. Der sehr heterogen zusammengesetzten Partei gelingt es 1968 stellenweise, eine Verbindung zwischen den streikenden Arbeitern und den demonstrierenden Studenten herzustellen. Die PSU geht gestärkt aus den Maiereignissen hervor; die Sozialdemokratie hat mit 5 % der Stimmen ihr schlechtestes Wahlergebnis. Auf Seite der extremen Linken haben sich starke, gut strukturierte Gruppen (Trotzkisten‚ Maoisten ...) gebildet, die zum Teil in der Folgezeit auf sie einwirken.

Selbstverwaltung

Die Mitglieder der PSU beteiligten sich an den verschiedenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und lehnten eine zentralistische, fest organisierte Partei ab. Die Hinwendung zu dem recht bekannt gewordenen Selbstverwaltungskonzept kündigt sich an. 1973 bildet die PSU zusammen mit Linkskommunisten und Trotzkisten die "Verbindungskommitees für eine sozialistische Selbstverwaltung".

Ebenfalls in diesem Jahr findet der wohl bedeutendste Arbeitskampf der Nachkriegszeit statt: Die von der Schließung bedrohte Uhrenfabrik Lip in Besancon wird von den Arbeitern besetzt, Produktion und Uhrenverkauf in eigener Regie übernommen. Die Sprecher der Arbeiter sind Mitglieder der PSU, die Partei kann sich als authentisches Sprachrohr der Belegschaft profilieren und stellt ihre Organisationsstruktur den Erfordernissen des Kampfes um Lip zur Verfügung. Die ursprünglich linkskatholische Gewerkschaft CFGT unterstützt - im Gegensatz zur kommunistischen CGT - vorbehaltlos den Kampf der Liparbeiter und macht sich die Selbstverwaltungsperspektive zu eigen. In dieser Phase wird die PSU von weiten Kreisen der Arbeiter stark beachtet.

Als 1977 die neugegriindete Sozialistische Partei mit Wahlerfolgen aufwartet, gerät die PSU mehr und mehr in die Isolation. Zunehmende Bürokratisierung und eine recht unkritische Haltung zum "Gemeinsamen (Wahl-) Programm" der Kommunisten und Sozialisten bewirkte eine Abwanderung von zahlreichen PSU-Mitgliedern. Auch die Verbindung mit der Ökologiebewegung im Jahre 1978 ergab für die 3.000 verbliebenen PSU-Mitglieder keine neuen Perspektiven, sodaß die Zukunft fiir die PSU heute ungewiß ist.

Bewertung der PSU

Ein Vorteil der von der PSU gewählten Organisationsform stellten die offenen Strukturen dar. Sie wurde von den sozialistischen Gruppen mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten genutzt‚ um produktive Fragestellungen zu erarbeiten. Neben der Kooperation innerhalb der jeweiligen Arbeitsfelder stellte man Überlegungen an, wie die einzelnen scheinbar voneinander isolierten Interessen in eine Gesamtperspektive einmünden können. Wenn sich auch die PSU - besonders in ihrer späteren Geschichte - sich in einigen Fällen aufkommenden Bewegungen angepaßt hat‚ so konnte sie doch viel sensibler und flexibler auf veränderte Bedingungen eingehen, als andere Gruppen es vermochten.

Indem die PSU sich die Selbstverwaltungskonzeption zu eigen machte, konnten in ihrem Rahmen verschiedene organisatorische Vorstellungen in der theoretischen Auseinandersetzung sich miteinander messen, ohne daß dabei die sozialen Bewegungen zwischen die Mühlsteine der verschiedenen reformistischen oder parteikommunistischen Strategien kamen. In dem Lip-Konflikt war es sehr wichtig, daß es neben der kommunistischen und sozialdemokratischen Partei noch eine 3. landesweit organisierte Kraft gab, die ihren Apparat in die Hände der spontan aufkommenden Unterstützungsbewegung legte und auch durch den illegalen Uhrenverkauf das Selbverwaltungsexperiment über Jahre hinweg möglich machte. Indem in fast jeder Stadt Frankreichs die Liparbeiter über organisierte Fürsprecher verfügten‚ konnte die weitgehend desinformierte Bevölkerung mit authentischen Aussagen der Betroffenen versorgt werden und war nicht nur auf die Presse angewiesen.

Während die maoistischen, trotzkistischen und kommunistischen Gruppen mit dem Interesse, ihre eigene Organisation zu stärken an den Auseinandersetzungen teilnahmen, setzte sich in der PSU "zunehmend die Position durch, daß die grundsätzliche Spaltung in der französischen Arbeiterbewegung nicht zwischen einer reformistischen Massenbewegung einerseits und einer revolutionären Strömung (in der Arbeiterlinken) andererseits verläuft. Entscheidend wird für sie vielmehr eine Scheidelinie zwischen einer Strömung, welche die Konzeption einer dezentralisierten Selbstverwaltung anstrebt, hier und den Vertretern eines politischen und gesellschaftlichen Zentralismus und eines zentralistischen Staates dort." (S.120)

Diese Haltung wurde 1977/78 aber nicht mehr konsequent durchgehalten, da die Mehrheit der PSU das "Gemeinsame Programm" in Erwartung eines Wahlsieges der Linken nur noch um eine radikale Komponente bereichern wollte. Die (wenn auch an Bedingungen geknüpfte) Unterstützung eines Regierungsprogramms ließ die bisher dominierenden Absichten der PSU-Mitglieder, selbstständiges und selbstbewußtes Handeln und Experimentieren zu fördern, in den Hintergrund drängen. Dazu kam noch, daß bestimmte Forderungen als zu weitgehend für ein Regierungsprogramm gestrichen wurden und so radikalere Gruppen, die einiges in Gang gesetzt haben, nicht mehr berücksichtigt wurden. Die PSU degenerierte in der Folgezeit immer mehr zum Korrektiv an der Politik der beiden Linksparteien. Und da sie dadurch nur noch das schlechte Gewissen einer anderen Bewegung war, ohne etwas radikal neues zu wollen, stellte sie keine eigenständige Kraft mehr dar und ihre Basis schmolz schnell dahin.

Die Haltung der Anarchisten zu den Linkssozialisten

Die üblichen Beurteilungskriterien mit denen die Anarchisten bisher an andere Organisationen herangegangen sind ("Wer wird im Sozialismus die Macht haben? Wahlbeteiligung ja oder nein?") simulieren zwar eine politische Weitsichtigkeit, helfen aber in der Realität nicht weiter, weil von ihnen andere Organisationsansätze nicht im besonderen Zusammenhang der gesellschaftlichen Zustände, die sie hervorgebracht haben, gesehen werden, sondern unter dem Gesichtspunkt der Abweichung von der "reinen" Lehre.

Die Abneigung, an gemeinsamen Erfahrungsprozessen teilzunehmen, sich in einen intensiven arbeitsmäßigen Zusammenhang auch mit denjenigen zu begeben, mit denen sie nicht in allen Punkten einer Meinung sind, hat dazu geführt, daß die Anarchisten zur Aufbewahrorganisation für revolutionäres Erbe verkamen und eine Gruppe wie die PSU zum Kristalisationspunkt der Selbstverwaltungsbewegung wurde.

Eine rein abstrak-theoretische Belehrung über die Unzulänglichkeiten parlamentarischer Vertretungssysteme bewirkte rein gar nichts. Wenn man als selbsternannter "Spezialist für freiheitliches organisieren" nicht in der Lage war, akzeptable Vorschläge zu praktischen und strukturellen Problemen in einen von verschiedenen Meinungen beherrschten Entscheidungsprozess einzubringen, wirkt man auf andere dazu noch unglaubwürdig.

Auch Anarchisten sind nicht im Besitz von hochentwickelten Organisationsvorstellungen, für die man nur noch günstige Anwendungsbedingungen schaffen muß. Deswegen geht es darum, an den emanzipatorischen Bewegungen in dem organisatorischen Rahmen anzuknüpfen, in dem sie sich tatsächlich befinden, um dort dafür zu sorgen, daß einmal erarbeitete libertäre Positionen nicht einfach durch ein Abflauen der spontanen Bewegungen verloren gehen können.

.... und in der BRD:

Meiner Meinung nach dürfen sich in der BRD die Anarchisten nicht mit überzogenem Übereifer von anderen undogmatischen Sozialisten abgrenzen, um den eigenen Anhängern einfachere politische Identifikationsmöglichkeiten zu verschaffen. Denn die daraus entstehende Lagermentalität mit ihrem verengten geistigen Horizont wird uns nicht in die Lage versetzen, produktive Fragestellungen zu entwickeln und weiterbringende Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen:

Wie kann ein freies Zusammenspiel möglichst vieler Menschen gegen die existierenden ungerechten Gesellschaftsstrukturen möglich gemacht werden? Wie können diese verschiedenen Kräfte dabei in einen geistigen und praktischen Lernprozeß eintreten, um die Zersplitterung und Konkurrenz der verschiedenen Interessensschwerpunkte aufzuheben?

Wenn der Wahlboykott heute mangels boykottierender Masse realistischerweise von vielen Anarchisten abgesagt wird, um an seine Stelle das Motto "Kämpfen statt wählen!" zu stellen, spiegelt ein solches Vorgehen im Grunde immer noch das gleiche Dilemma wieder, indem sich die Anarchisten seit dem 2. Weltkrieg befinden: Das kämpferische Pathos ihrer Worte kann ihre Ratlosigkeit gegenüber den Anforderungen, die die aktuelle Situation an sie stellt, nur mühevoll übertünchen.

Und im Übrigen würde ich selbst als außerparlamentarisch arbeitendes Bürgerinitiativmitglied in diesen Vorhaltungen großartiger anarchistischer Binsenwahrheiten eher eine Zumutung, denn eine Hilfe sehen. Denn wer bisher "gekämpft" und etwas zustande gebracht hat, und wer hier der Papiertiger war, dürfte wohl klar sein. Wenn wir Widersprüche und Ungereimtheiten in uns nahestehenden Bewegungen glauben entdeckt zu haben, müssen wir uns auch dorthin begeben, wo sie anzutreffen sind, um zu einer positiven Weiterentwicklung in unserem Sinne beizutragen!

Linkssozialisten in Europa, Junius-Verlag, Hamburg, Preis: 24,- DM, Seiten: 215

Anmerkung:

In diesem Zusammenhang möchte ich auf meinen Artikel über die französische Basisgewerkschaft SUD hinweisen, den ich 2005 in der "Graswurzelrevolution" geschrieben habe: "DGB-Masochismus? Nein danke! – Es gibt Alternativen: Das Beispiel Frankreich":

http://www.machtvonunten.de/gewerkschaften.html?view=article&id=151:dgb-masochismus-nein-danke&catid=16:gewerkschaften

 

 

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