Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 284, Dezember 2003

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Linke Kleinparteien und Basisbewegungen zur Europawahl

Als am 1. November 100.000 Menschen in Berlin gegen den Sozialkahlschlag demonstrierten, zeigte sich deutlich, dass sogar in Deutschland der Widerstand ein beachtliches Ausmaß angenommen hat.

Obwohl der ver.di-Bundeskongress sechs Tage zuvor zwar formal, aber praktisch viel zu spät und halbherzig zu dieser Demonstration aufrief, haben zahllose Basisgruppen von unten diese Organisationsaufgabe geleistet. Bis kurz vor diesem Demonstrationstermin hat fast niemand mehr geglaubt, dass in Deutschland noch mit einiger Verspätung so etwas wie eine europäische Normalität des Widerstandes eintreten würde. Den Bestrebungen von Regierung und Unternehmern, die die vorhandenen sozialen Sicherungssysteme zerschlagen wollen, wurde massenhaft Widerstand entgegengesetzt. Wenn es allerdings nicht bei einem einmaligen Paukenschlag bleiben soll, müssen die Menschen jetzt in den Regionen und in den Betrieben verstärkt aktiv werden.

Und worüber zerbrechen sich Teile der Linken zur Zeit den Kopf? Über eine mögliche Beteiligung an der Europawahl im Juni 2004. Wegen der günstigen Teilnahmebedingungen schlug bei speziell diesen Wahlen schon immer die Stunde der Marginalisierten und Dezimierten. Diverse trotzkistische Kleinstorganisationen mit bestenfalls gerade einmal ein oder zwei Dutzend Ortsgruppen wittern nach jahrzehntelangem Niedergang die Chance, wenigstens einmal in ihrer Geschichte eine herausragende Rolle zu spielen. Sie wollen bei der Europawahl Superstar unter den Linken mit einer Null vor dem Komma werden – in trauter Nachbarschaft etwa mit der Partei Bibeltreuer Christen. Die Herrschenden in diesem Land werden vor Angst erzittern!

Beflügelt durch diverse Erfolge neuer linker, nichtreformistischer Parteien in Europa blicken diese wackeren Antikapitalisten hoffnungsfroh vor allem nach Frankreich, wo drei trotzkistische Parteien bei den Wahlen zusammen über 10 Prozent der Stimmen erhalten haben. Schon seit zwei Jahren gibt es Bestrebungen, einen Zusammenschluss verschiedener europäischer Parteien mit unterschiedlicher Herkunft (3. bzw. 4. Internationale und Linkssozialisten) anzubahnen. Diese "Europäische Antikapitalistische Linke" (EAL) fand zu ihrer 6. Konferenz im Juni 2003 zusammen. Teilgenommen haben u. a. die Scottish Socialist Party, Rifondazione Communista (Italien), Ligue Communiste Revolutionaire/LCR (Frankreich), Red Green Alliance (Dänemark) und etliche Andere.

Im Mai 2003 trafen sich die deutschen "Freundinnen und Freunde der EAL". Es nahmen teil: Sozialistische Alternative Voran (SAV), Linksruck, Linker Geraer Dialog in der PDS, Internationale Sozialistische Linke (Sozialistische Zeitung), DKP (nur als Beobachter). Im August folgte ein weiteres Treffen und die "Junge Welt" schrieb zu den diskutierten Eckpunkten: "Das Papier sieht vor, eine linke politische Kraft zu bilden" (11. 8. 2003). Grundkonsens der EAL ist es, dass die neoliberal gewendete Sozialdemokratie Raum für eine neue antikapitalistische und plurale Kraft schaffen würde, die wiederum die Zusammenarbeit zwischen den neuen sozialen Bewegungen gegen die Globalisierung und der Arbeiterbewegung fördern sollte.

Immer wenn von unten auf etwas Neues entsteht, ziehen diese Bewegungen diejenigen an, die seit jeher geradezu zwanghaft Kräfte bündeln, radikale Hauptstoßrichtungen vorgeben, Forderungen zuspitzen, allwissend koordinieren wollen – und kandidieren müssen.

Bei diesem langfristig angelegten „Projekt mit strategischer Bedeutung“ war letzterer Punkt allerdings nicht ganz unumstritten. Einige geübte Strategen in der "Sozialistischen Zeitung" kommen nicht darum herum zu bedenken, dass eine Kandidatur links von der PDS "bescheidene Ergebnisse einfahren" könnte; "das kann im Ergebnis demoralisierend wirken".

Andererseits lockt die Vorstellung, dass durch "eine Wahlbeteiligung die vorhandenen linken Gruppierungen gestärkt werden" könnten. Indem in diesem Zusammenhang der "propagandistische Aspekt linker Politik"(SoZ, Okt. 2003) hervorgehoben wird, werden elementare negative Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Wahlkandidaturen über Bord geschmissen: Wahlkämpfe klären niemand auf, sondern verkaufen Menschen für dumm.

Worum geht es den Organisatioren der EAL? Wollen sie wirklich nur uneingennützig in den sozialen Bewegungen mitarbeiten? Ein LCR-Mitglied aus Frankreich sagt es in einem Artikel ganz offen: "Es bedarf einer politischen Bewegung (...), die Lehren der Vergangenheit in klare Ziele und Strategien für die Gegenwart fasst ..." (JW 29. 10. 2003). Ein etwas vermessener Anspruch, zumal Fausto Bertinotti, Vorsitzender der italienischen "Rifondazone Communista", hinsichtlich der sozialen Basisbewegungen unumwunden zugibt, wer hier wem etwas zu verdanken hat: "Ohne diese Öffnung gäbe es uns heute nicht mehr. Rifondazione wäre allenfalls eine wandelnde Leiche ..." (JW 18. 10. 2003).

Die bisherige Stärke der Antiglobalisierungsbewegung speiste sich auch aus der Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher und parteiferner Gruppen. Bei einer verstärkten Orientierung einiger beteiligter Organisationen auf die EAL geraten zwei grundsätzlich unterschiedliche Politikformen in Konkurrenz zueinander. Beide lassen sich nicht in gleicher Weise mit der gleichen Intensität betreiben. Die bisherigen Erfolge fielen nicht vom Himmel, sondern mußten auch erarbeitet werden. ATTAC kann sich beispielsweise nicht darauf verlassen, dass der Zustrom an AktivistInnen unvermindert anhält. Es muß also überlegt werden, wie die vorhandenen Kräfte am sinnvollsten eingesetzt werden können. Durch die EAL kommt es zu paralellen Strukturen und Aktivitäten zum gleichen Thema. Bei konkreten Aktionen und Vorhaben werden dann Abstriche gemacht werden müssen, was zu einer Reduzierung der Durchsetzungskraft der Bewegung führen wird.

Außerdem wird sich die Antiglobalisierungsbewegung zu Recht eine Instrumentalisierung durch die EAL verbitten. Es wird zu den üblichen Irritationen, unergiebigen Diskussionen und überflüssigen Streitereien kommen. Die Orientierung auf die Teilnahme an der Europawahl verschüttet die politische Phantasie der Akteure zu Gunsten bürokratischer und mechanistischer Verfahrensabläufe. Erinnern wir uns, mit wieviel Kreativität und subversiver Energie die verschiedenen sozialen Bewegungen in ihren Anfängen begonnen haben und sehen wir uns an, was heute daraus bei ihren selbsternannten parlamentarischen Vertretern – Grüne und PDS – geworden ist. Ist dies nicht abschreckend genug? Gleichzeitig würde ein marginales Ergebnis der EAL bei der EU-Wahl nicht im geringsten die gesamte gesellschaftliche Breite des Protestes gegen die kapitalistische Globalisierung darstellen.

Durch ihre Beteiligung an der Europawahl verstärkt die EAL die Legitimation für ein politisches System, das den Menschen reale Mitspracherechte in vielen wichtigen Fragen vorenthält. Nicht ohne Grund ist die Wahlbeteiligung in Deutschland bei der letzten Europawahl 1999 auf 45,2 Prozent zurückgegangen. Der Mangel an direkten politischen Einflußmöglichkeiten wird sicherlich nicht durch einen Wahlkampf für eine Kleinstpartei behoben werden können.

Durch die zur Zeit diskutierte neue Verfassung wird sich die EU noch mehr als bisher von den Interessen der BürgerInnen entfernen. Volksbegehren und Volksentscheide sind auf EU-Ebene auch in Zukunft nicht vorgesehen. Neben dem Europäischen Parlament haben die Europäische Kommission und der Europäische Rat wichtige Exekutiv- und Machtbefugnisse, die sich sogar der Einflußnahme durch das gewählte Parlament entziehen. Selbst die Bildung dieser Kommission und des Rates vollzieht sich ohne direkte parlamentarische Beteiligungsmöglichkeit. Obwohl immer mehr Aufgaben auf die EU übertragen werden, nehmen die Mitsprachemöglichkeiten der BürgerInnen rapide ab. Grundlegende Entscheidungen der Innen- und Aussenpolitik werden in Zukunft vom Rat gefällt. Sie können noch nicht einmal mehr von den Parlamenten der jeweiligen Staaten beeinflusst werden – von den einfachen BürgerInnen ganz zu schweigen.

Das wirkliche Ziel der hinter der EAL stehenden Gruppen ist es, an der in vielen Ländern Europas zu beobachtenden Aufbruchstimmung unter den nichtreformistischen Parteien auch in Deutschland teilzuhaben und mittelfristig durch eine "Um- und Neugruppierung" der Parteien links von SPD und PDS ihren eigenen Organisationen ein größeres politisches Gewicht zu verleihen. Diese Bestrebungen werden von den teilnehmenden Gruppen als Absage an das Sektierertum, neue Nachdenklichkeit und Stärkung innerlinker Solidarität und Zusammenarbeit verkauft.

Wenn diese EAL eine Antwort auf das von Arno Klönne in der Sozialistischen Zeitung (11/2003) veröffentlichte "Plädoyer für eine selbstkritische Linke" sein soll, dann kann ich nur empfehlen: Bitte noch einmal ganz von vorne anfangen! Kritik an den undemokratischen und hierarchischen Strukturen der EU und seiner Politik können wir auch ohne Teilnahme an den Europawahlen zu Gehör bringen.

 

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