Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 286, Februar 2004

Die EU-Verfassung ist unsozial!

Wenn wir den Artikel 2 des Entwurfes der EU-Verfassung lesen, so könnte man fast meinen, dass mit ihr ein Reich im Entstehen begriffen ist, indem Milch und Honig fließen wird: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet." - Hat etwa Außenminister Fischer einige längst verschüttet geglaubte politische Ziele aus seiner Spontizeit mit Nachdruck in den erweiterten Staatenbund eingebracht? - Natürlich nicht.

Jenseits des wohlfeilen Wortgeklingels werden mit dieser EU-Verfassung Verhältnisse festgeschrieben, die in eine ganz andere Richtung gehen. Der in den Medien vielbeachtete Streit um die Stimmgewichtung im EU-Ministerrat betrifft in keiner Weise die Grundfragen, die für die meisten Menschen in Europa wirklich wichtig sind.

Die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann (PDS) hatte im Oktober vergangenen Jahres die Nennung der "sozialen Marktwirtschaft" in der Verfassung als Fortschritt bezeichnet und den Kritikern "Politikunfähigkeit" vorgeworfen. Schauen wir genauer hin.

Zunächst einmal ist im Artikel 3 als Ziel von einer "in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft" die Rede. Das "Soziale" erfährt also eine sehr deutliche Einschränkung. Darüberhinaus wird in den Artikeln 69, 70 und 77 ein halbes Dutzend mal betont, dass EU-Wirtschafts- und Sozialpolitik sich "dem Grundsatz einer offenen (!) Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" unterzuordnen hat.

In Artikel 97 fordert die Verfassung die "Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer sowie die Fähigkeit der Arbeitsmärkte, auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels zu reagieren." Dies bedeutet, das der Zwang für Lohnabhängige und Arbeitslose, jede Arbeit zu immer schlechteren Bedingungen anzunehmen, Verfassungsrang erhält.

Die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der die EU die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Markt zu schaffen hat, wird hier festgeschrieben. Alternativen hierzu wären demnach verfassungswidrig. Die "Grundfreiheiten" des "Waren- und Kapitalverkehrs" (Artikel 4) und der "Abbau von Beschränkungen des internationalen Handels" (Artikel 188) haben oberste Priorität. Verstöße gegen dieses Allerheiligste der kapitalistischen Marktwirtschaft werden nicht zugelassen. Der Ministerrat "nimmt in regelmäßigen Abständen eine Gesamtbewertung" (Artikel 71) der Wirtschaftspolitik vor, unterwirft sie einer "multilateralen Überwachung" und erteilt "Verwarnungen" an Staaten, die sich eventuell der Kapitallogik widersetzen wollen.

Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz kennt die übergeordnete EU-Verfassung keine "soziale Verpflichtung des Eigentums" mehr, auf die man sich bei den zur Zeit stattfindenden sozialen Abwehrkämpfen berufen könnte. Während die Freiheiten der Unternehmer in der neuen Verfassung konkret festgeschrieben werden, bleiben die nur äußerst vage formulierten "Rechte" der ArbeiterInnen uneinklagbar und stehen selbstverständlich unter Finanzierungsvorbehalt – damit die gehätschelte Wirtschaft auch ja keinen Schaden nimmt!

Die EU-Verfassung stellt mit ihrer Orientierung auf eine "offene Marktwirtschaft" einen deutlichen Rückschritt gegenüber den bisher bestehenden Verfassungen der meisten der europäischen Länder dar. Die Geschicke des neuen EU-Staates werden in Zukunft noch weniger durch basisdemokratische Bewegungen von unten beeinflußt werden können als bisher, weil eine abgehobene Politikerelite noch über den einzelnen Nationalstaaten stehend die meisten wichtigen Entscheidungen fällen wird.

Es wird in Zukunft die Aufgabe der sozialen Bewegungen sein, dem Europa des Kapitals energischen Widerstand entgegenzusetzen und sich europaweit effektiv zu vernetzen. Ein wichtiger nächster Schritt werden die Aktionstage gegen Sozialabbau am 2. und 3. April sein.

 

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