Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 293, November 2004

Es wird erst was passiern, wenn wir uns organisiern!

Die letzten Wochen haben deutlich gezeigt, dass es mit dem Widerstand gegen den sozialen Kahlschlag nicht mehr so weitergehen kann, wie bisher. Das Instrument Montagsdemonstration ist durch ständige Wiederholung ausgereizt worden. Ein rechtzeitiger würdevoller Schlusspunkt wurde verpasst, hoffnungsvolle neue Mobilisierungsansätze nicht entwickelt.

Die Großdemonstration am 2. Oktober machte ebenfalls deutlich, dass zur Zeit auch bei Massenprotesten keine Steigerung mehr möglich ist. Die Initiative für eine neue Linkspartei ist mehr mit sich selbst beschäftigt, konferiert fleißig und hält sich weitgehend aus den außerparlamentarischen Bewegungen heraus.

In diesem Herbst/Winter fanden und finden alle zwei Wochen größere Aktionen statt, die viel Kraft kosten werden:

20. 10. Aktionen gegen Arbeitszeitverlängerung

30. 10. Weltspartag

6. 11. Agenturschluss (Nürnberg)

17. 11. Tag der Wiederaneignung

6. 12. Aktion Nikolaus (Alg.II-Antragsabgabe)

3. 1. 2005 Aktionen vor/in Arbeitsämtern

Bei all diesen Aktionstagen besteht trotz kreativer Aktivitäten die Gefahr, dass sie nicht ganz zu Unrecht als Strohfeuer wahrgenommen werden. Wenn bundesweit alle zwei Wochen eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird, verzetteln sich die AktivistInnen in vielen Einzelaktionen und die Medienwirkung lässt rapide nach. Der rote Faden, der alle Aktivitäten und die in sie gesetzten Hoffnungen miteinander verbindet, wird immer unsichtbarer, anstatt sich zu einem starken Band der Solidarität an der Basis vor Ort zu entwickeln.

Unsere Forderungen in diesem Herbst/Winter sollten unmissverständlich und nachvollziehbar sein, konkrete Adressaten haben und auch für eine absehbare Zeit bestimmte Verbesserungen oder Änderungen einfordern. Die auf der Großdemonstration in Berlin vom schwarz-roten Block skandierte Forderung "Alles für alle" ist dagegen äußerst diffus. Insbesondere dann, wenn sie nicht genauer auf Flugblättern erklärt wird. Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass der gesellschaftliche Reichtum gerecht verteilt werden soll. Wer hier was genau abzugeben hätte und wer was bekommen sollte, bleibt nebulös. Wenn unsere Forderungen schon so unklar sind, wie kann dann unser Kampf erfolgreich sein? Wenn bei unserer Außendarstellung niemand sagt, was unserer Meinung nach das allernächste anzustrebende Ziel sein soll, wie können wir dann überhaupt neue AnhängerInnen gewinnen?

Um an den bestehenden Abwehrkämpfen teilnehmen zu können, müssen wir zunächst verstärkt Anforderungen an uns selbst stellen und uns jenseits von billigem Maximalismus auf tragfähige Übergangsforderungen verständigen, die jeder Mensch verstehen kann und deren Erkämpfung mittelfristig sogar möglich wäre. Dies sind meiner Meinung nach neben der Rücknahme der Hartz-Zumutungen zu allererst radikale Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Grundsicherung für alle, stärkere Besteuerung Reicher.

Wer aufmerksam beobachtet, der wird feststellen müssen, dass – durch entsprechende Medienberichterstattung forciert – die Stimmung im Lande im Begriff ist, gegen die Hartz-Protestierer umzuschlagen. Wir dürfen nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die Empörung gegen Hartz IV mehrheitlich eine höchst oberflächliche ist und nicht mit einem grundlegenden antikapitalistischen Bewußtsein verwechselt werden sollte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die jetzige politisch-ökonomische Krise nicht automatisch zu kritischem Denken in der Bevölkerung führt, sondern eine kapitalismuskritische „Alphabetisierungskampagne“ über den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Oben und Unten notwendig ist.

Wahrscheinlich wird in den ersten Monaten des nächsten Jahres die Empörung ein zweites Mal hohe Wellen schlagen, wenn viele Menschen die Auswirkungen von Hartz IV am eigenen Leib spüren. Um auf diese zweite Welle gut vorbereitet zu sein, müssen schon jetzt Strukturen vorbereitet und aufgebaut werden, um organisatorische Auffangbecken für neue TeilnehmerInnen für zukünftige Mobilisierungen zu schaffen. Dies können je nach Lage vor Ort Anti-Hartz-Gruppen, Sozialforen, Arbeitslosenräte oder FAU-Ortsgruppen sein. Es kommen also zusätzliche Aufgaben auf uns zu, wenn sich unsere Rolle nicht auf die sporadisch-aktionistische Begleitmusik der Proteste zur Einführung von Hartz IV beschränken soll.

Wir müssen aus unserer bisherigen engumgrenzten und von andern oftmals gerne gesehenen Rolle als quirlige Aktionsgruppe für aktionistische Highlights heraustreten und mehr für den Aufbau eigener Organisationsstrukturen tun. Denn was nützen all unsere unkonventionellen Aktionen, wenn die hierdurch angesprochenen Menschen anschließend – und hier übertreibe ich natürlich ein bischen – zur MLPD gehen?

Ein zweites, riesiges Defizit der Bewegung gegen Hartz IV liegt darin begründet, dass in den Betrieben auch durch das Wirken sozialdemokratischer DGB-Funktionäre ein hohes Maß an Desinformation über den wahren Charakter der neuen Gesetze verbreitet wird. Anlässlich der aktuellen Entlassungen bei Opel und Karstadt müssen wir den (noch) Beschäftigten klarmachen: Vielleicht stellst auch du schon in 12 Monaten den Antrag auf Armut!

Solange die Belegschaften nur bei Tarifauseinandersetzungen oder drohenden Entlassungen streiken und allen Anderen den Protest gegen Hartz IV überlassen, wird jeder für sich seine eigene Niederlage einhandeln. Deswegen muss die Aufklärung über Hartz IV verstärkt in die Betriebe getragen werden, um eine Verbindung dieser Kämpfe herzustellen. Das alles passiert nicht von alleine. Wir müssen uns also ein umfangreiches, gut durchdachtes Arbeitsprogramm auferlegen.

 

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