Aus: "junge Welt", 22. 9. 2000

Oskar Maria Grafs Roman "Der Abgrund"

Wenn Hans G Helm das Buch "Der Abgrund" von Oskar Maria Graf dahingehend deutet, daß hierin die Kommunisten der 30er Jahre als kämpferisch, konsequent und hellsichtig dargestellt werden, so trifft bestenfalls das Erstere zu, alles Andere stimmt keineswegs. Eine eindimensionale parteipolitische Darstellung ist so ziemlich das Letzte, was man Graf andichten könnte.

Vielmehr legt sein Buch Zeugnis dafür ab, wie verwirrt, fanatisch und leicht manipulierbar die übergroße Mehrheit der Bevölkerung einschließlich vieler Linker vor und nach der Machtübernahme durch den Faschismus war:Oskar Maria Graf

"Die Augustmitte war schon vorüber, und mit ganzer Gewalt entbrannte der Wahlkampf. In der Frühe ging der Mensch friedlich an seine Arbeit oder zur Stempelstelle, abends verwandelte er sich in einen besinnungslosen Draufgänger. Nur ein Gedanke beseelte ihn, wenn er mit den Massen seinesgleichen die großen Säle füllte: die Niederringung des politischen Gegners. (...) Eine verdrossene Lethargie breitete sich allenthalben unter den Massen aus, entmachtet zerfielen sie wieder in verängstigte Einzelne. Jeder war sich selbst der Nächste, und der kleinste erlistete Vorteil wurde zur Lebensart der Hoffnungslosen".

Indem die kommunistische Parteiführung zeitweilig die Sozialdemokratie als Hauptfeind und die Katastrophe der faschistischen Machtübernahme als Vorstufe einer zukünftigen revolutionären Umwälzung sah, lag diese Partei mit ihrer Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit reichlich daneben.

Oskar Maria Graf "Die Revolutionäre"Und mit ihr auch Helms, der sich aus Grafs Roman nur ein paar Punkte herauspickt, die in sein Weltbild passen und die andere Inhalte einfach nicht weitervermittelt. Dieses Verhalten liegt inhaltlich auf der gleichen Ebene wie Jenes der deutschen Kommunisten, die das Erscheinen von Grafs Buch "Der Abgrund" in ihrem Machtbereich wegen politischer Mißliebigkeit längere Zeit erfolgreich verhindert hatten!

Grafs Biograph Gerhard Bauer verdeutlichte, worin eine wichtige Distanz des libertären Schriftstellers gegenüber den Parteikommunisten begründet lag:

"Am peinlichsten berührte ihn die abstrakte Sprache der Parteipropaganda, vor allem das gequälte Flugblattdeutsch der Kommunisten. Die papiernen oder pathetischen Formulierungen verletzten nicht nur sein inzwischen sehr entwickeltes Sprachempfinden. Sie demonstrierten ihm die Ohnmacht der angeblich ständig kampfbereiten und kampfstarken Arbeiterparteien. In ihren Worten erkannte er sie eingesponnen in ihre strategischen Illusionen, abgehoben von dem, was die einfachen Menschen, die eigentlichen Subjekte jeglicher revolutionärer Politik, tatsächlich brauchten, wünschten und wie sie miteinander redeten".

Anmerkung

Dies ist ein Leserbrief zu dem Artikel "Hoffen wie eingelernt. Der Kampf der antifaschistischen Literaten ums Überleben" vom 16. 7. 2000 in "junge Welt". Pikanterweise wurde die von mir kursiv gesetzten zwei Sätze über die Zensur der Kommunisten bei genau diesem Buch Grafs von der Redaktion der "jungen Welt" gekürzt! Das ist ein deutliches Zeichen, wie wenig lern- und veränderungsfähig sie auch heute noch sind.Oskar Maria Graf in einer sowjetischen Karikatur

Insgesamt habe ich fünf Artikel über Oskar Maria Graf geschrieben. Hier sind sie einzusehen:

"Oskar Maria Graf zum 100. Geburtstag" (Aus: "Naturfreunde", Nr. 4, 1994):

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=24:oskar-maria-graf-zum-100-geburtstag&catid=13:literatur-und-politik

"Schuhplattler auf dem Vulkan. Oskar Maria Graf und die Sowjetunion" (Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 181, Oktober 1993)

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=87:schuhplattler-auf-dem-vulkan&catid=13:literatur-und-politik

"(Nicht nur) Geschichten aus Backstube und Bauernhaus" (Aus: "Mahlzeit!", Juli 1992):

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=99:nicht-nur-geschichten-aus-backstube-und-bauernhaus&catid=13:literatur-und-politik

"Der ewige Kalender" von Oskar Maria Graf. (Aus: "Unabhängige Bauernstimme", Januar 1994):

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=98:der-ewige-kalender-von-oskar-maria-graf&catid=13:literatur-und-politik

"Oskar Maria Graf: Der Lackl vom Land" (Aus: "Bauernstimme", Januar 1992)

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=91:oskar-maria-graf-der-lackl-vom-land&catid=13:literatur-und-politik

 

 

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