Buchbeitrag in "Unsere Zukunft ist nichts ohne Änderung der Gegenwart. Zustände", AHDE-Verlag, 1981

Ernährung und Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland

Unsere Zukunft ist nichts ohne Änderung der GegenwartIn einer Zeit, in der mit Schadstoffen belastete Nahrung und die Landwirtschaft ins Gerede gekommen sind, wird es wichtig, sich nicht dazu verleiten zu lassen, bestimmte, in der Öffentlichkeit breitgetretene Sichtweisen zum Dreh- und Angelpunkt unserer Betrachtungen zu machen. Die offiziellen, staatlich geförderten Verbraucherverbände auf der einen und der Bauernverband auf der anderen Seite geben weder ein unverfälschtes Meinungsbild derjenigen ab, die sie vorgeben zu repräsentieren, noch zeigen sie alle wichtigen Hintergründe und Zusammenhänge auf, die bei einer solchen Vielfalt von Beziehungen und Prozessen beachtet werden sollten.

Noch vor 150 Jahren lebte die Bevölkerung vom Brot, von der Milch, vom Fleisch und vor allem dem, was in der Umgebung geerntet wurde und trug so durch eine ausgewogene Ernährung zur Erhaltung ihrer Gesundheit bei. ln der Folgezeit entstanden Transportsysteme wie Eisenbahn und Dampfschiffe, die aus weit entfernt liegenden Agrarüberschußgebieten Lebensmittel heranschafften. Um sie für den Transport haltbarer zu machen, wurden sie konserviert und veredelt. Das Resultat war der Verlust der natürlichen Eigenschaften der Lebensmittel und eine Verlagerung häuslicher Tätigkeiten wie sortieren, schälen, zerkleinern in gewerbliche Betriebe. Hierdurch verloren die Menschen immer mehr die Kontrolle über einen Lebensbereich, in dem sie bisher selber bestimmt haben und der für sie durchschaubar war.

Die Entwicklung der industriellen Verarbeitung von Nahrungsmitteln ist bis heute so weit gegangen, daß sich viele Menschen in einem großen Maße von kompletten Fertigmenüs ernähren. Durch die produktionsbedingte Zerstörung wichtiger Faser- und Nährstoffe ist die Qualität der Nahrungsmittel erheblich gesunken und es sind durch die Zunahme der ernährungsbedingten Krankheiten Probleme entstanden,die früher wenig bekannt waren. "Fertiggerichte werden konserviert durch Zugabe hoher Salzmengen (Natriumchlorid); zum Beispiel sind Erbsen aus derDose durchschnittlich 250 mal stärker gesalzen als frische Hülsenfrüchte. Tiefkühlpackungen enthalten durchweg 100 mal mehr Salz als natürliche Nahrungsmittel. 100g Vollweizenmehl enthält etwa 2 mg Salz, die gleiche Menge Weißbrot nicht weniger als 385 mg. Der Grund: Je mehr Salz im Brot ist, desto langsamer schimmelt es. (...) Der erhöhte Salzverbrauch steht im Verdacht, eine Rolle in der Entstehung des Bluthochdruckes zu spielen." (1)

Ein besonders gutes Beispiel, wie landwirtschaftliche Produkte immer mehr genormt, konfektioniert und nach den Maßstäben des äußeren Scheins aufbereitet werden, ist die Milch. Es dauert in der Regel vier Tage, bis sie als "Frischmilch" auf den Markt kommt und zwar in Papier- und Plastiktüten, zu deren Öffnung es besonderer Instrumente und Geschicklichkeit bedarf. Bei dem Genuß homogenisierter Milch nimmt bei Herzkranken die lnfarktgefahr zu, weil die Fettröpfchen auf 1/10 bis 1/20 ihrer natürlichen Größe zerschlagen werden, so daß sie durch die menschliche Darmwand dringen und sich in den Gefäßwänden absetzen können.

Bauer und ComputerUm sich im Wettbewerb mit der Limonade in den Schulen wieder Vorteile zu verschaffen, will die Milchwirtschaft Milchmischgetränke mit Geschmackszusätzen anbieten: "Den Jugendlichen werden Produkte verkauft, die zu 15 Prozent aus Fruchtzubereitungen bestehen, d.h. Zucker, Farbstoffe, Konservierungsstoffe und Fruchtkonzentrate in vielen Variationen. Dem unkontrollierten Verlangen der Kinder und Jugendlichen nach Süßigkeiten wird mit diesen Produkten voll entsprochen, und somit ein Beitrag geleistet zur einseitigen, auf Süßigkeiten ausgerichteten Fehlernährung." (2)

Während früher das Brot ein Hauptnahrungsmittel war, ist heute der Belag wichtiger und nur wenige Menschen richten ihr Augenmerk darauf, welch wichtige Aufgabe das Brot hat: in dem Samenkorn des Getreides ist das Vitamin B1 reichlich vorhanden, welches für die Wirksamkeit der anderen Vitamine von Bedeutung ist. Aber ausgerechnet bei dem viel gegessenen Weißbrot gehen durch die Ausmahlungsprozesse des Getreides wichtige Vitamine verloren und da die Herstellung in wesentlich mehr Arbeitsschritten erfolgt, ist der Energieaufwand größer als beim Vollkornbrot.

Warum aber werden viele Lebensmittel gekauft, die eindeutig schädliche Auswirkungen haben? Viele Menschen haben durch falsche Kaufkriterien einer Fehlentwicklung Vorschub geleistet: sie kaufen nach Bequemlichkeit (fertige Mahlzeiten), nach ihrem Wert als Statussymbol (Weißbrot, teures Fleisch), nach modischen Aspekten und aus Langeweile oder Kompensation (Süßigkeiten).

Film: "Septemberweizen"Sieht man sich die Werbung an, so fällt auf, daß für naturbelassene und vollwertige Nahrungsmittel kaum geworben wird. Am unverarbeiteten Produkt verdienen weniger Zwischenhändler und keine an der Weiterverarbeitung Beteiligten und folglich hat niemand Interesse daran, Reklame zu machen. Die Bauern selber können sich aus zeitlichen, organisatorischen und finanziellen Gründen nur sehr schwer direkt an die Konsumenten wenden.

Die Verantwortung für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden wird an Ärzte und Nahrungsproduzenten delegiert. Nicht eine sinnvolle Zuordnung der vollwertigen Nahrungsmittel zueinander und ein Denken in Zusammenhängen bestimmt unsere Ernährungsweise, sondern es werden ständig irgendwelche ”Sündenböcke" wie Fette, Kohlehydrate und Eiweiße aufgebaut. Wie sehr die Ernährungsgewohnheiten das Wohlbefinden des Konsumenten bestimmen, verrät ihm niemand. Zu viele Interessen verdienen an seinem Fehlverhalten und den daraus entstehenden Krankheiten.

Freibeuter, Nr. 6, 1980Besonders findige Verteidiger der momentan existierenden Situation wenden ein, daß sich unser Gesundheitszustand im Vergleich zu früher verbessert habe. Doch:

"Das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist heute nur deshalb höher, weil die Säuglingssterblichkeit sehr stark abgenommen hat. Wenn man aber den Personenkreis von dem 30sten oder dem 35sten Lebensjahr an berücksichtigt, hat sich die Lebenserwartung der Männer in den letzten 30 jahren praktisch überhaupt nicht verbessert. ln der gleichen Zeit aber stieg der Aufwand für ärztliche Versorgung, also für die Gesundheitsverbesserung, um das Zwölffache." (3)

lm Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft wurden verstärkt chemische Mittel zur Krankheits- und Schädlingsbekämpfung in der Tier- und Pflanzenproduktion eingesetzt, die sich über die Nahrungskette im Fettgewebe des Menschen anreichern und dabei krebserzeugend wirken und Mißbildungen hervorrufen.

"Eine Modelluntersuchung an den Obst- und Gemüsemärkten in Hessen und Rheinland-Pfalz kam u. a. zu folgenden Ergebnissen: 25% der Äpfel, 67% der Karotten, 38% der Rettiche, 17% der Tomaten, 17% des Weißkohls, 25% des Wirsings sind mit Pestizidrückstanden belastet." (4)

 

 

Wessen Profit?Diese Zahlen zeigen, daß jede sich nach den gängigen Normen ernährende Person tagtäglich eine bestimmte Menge an Giftstoffen zu sich nimmt. Von 1951 bis 1978 stieg die Pestizidproduktion in der BRD um 296 Prozent an, so daß heute 85 Prozent der Ackerflächen mit Gift behandelt werden. (5) Viele Landwirte stehen dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ohne ausreichende Informationsbasis gegenüber, verfahren nach dem Motto "mehr hilft mehr" und bewirken so erhöhte Giftkonzentrationen. Gebrauchsanweisungen sind keine großen Hilfen, weil viele darin vorkommende Begriffe unverständlich sind. Eine Umfrageaktion aus dem Jahre 1974 belegt, daß 47 Prozent der befragten Landwirte mit dem Begriff "Wartezeit" nichts anfangen konnten. (6) Auch die groß angelegten "lnformationskampagnen" der chemischen Industrie über Pestizide tragen nicht zur Aufklärung der Landwirte bei. Sie sollen zum Kauf dieser Produkte anregen!

Um genau die vorgeschriebene Dosis von Giften einzusetzen, sind einwandfrei funktionierende Geräte erforderlich. Jedoch unterliegt die Konstruktion der Spritzgeräte bestimmten Mindestanforderungen der biologischen Bundesanstalt, nicht aber deren Wartung. ln NRW werden nur etwa 3 Prozent der Geräte der freiwilligen Überwachung unterzogen. ln Bayern sind es etwas mehr. Von ca. 30.000 Feldspritzgeräten wurden 8 bis 9 Prozent kontrolliert. Aus dem Jahre 1976 ist bekannt, daß ca. 75 Prozent der überprüften Geräte Mängel aufwiesen (7). Bei etwa 77 Prozent der Anwender von Pestiziden sind krankhafte Veränderungen zu beobachten, bei 67 Prozent äußern sich die Symptome regelmäßig. Dazu gehören: Leber- und Nierenschäden, Herz- und psychische Schäden. (8)

Bauernblatt, Nr. 6, 1977Pestizide wirken in der Regel nicht spezifisch, d.h. sie vernichten außer den Schädlingen auch noch andere Lebewesen. Oft ist es sogar so, daß die natürlichen Feinde der Schädlinge ebenfalls an dem Gift sterben. Dadurch kommt das natürliche Gleichgewicht durcheinander und die ürsprünglich bekämpfte Schädlingsart (die meist nur gelegentlich auftrat) vermehrt sich schneller als zuvor und wird zum Dauerschädling. Gleichzeitig werden andere bisher wenig verbreitete und deshalb nicht schädliche Arten durch die Anwesenheit ihrer natürlichen Feinde bevorzugt und nun ihrerseits zum Schädling!

Übervermehrungen von Schädlingen werden außerdem noch wahrscheinlicher, wenn die Umweltverhältnisse für sie günstig sind. Der Anbau empfindlicher Kulturpflanzen auf großen Flächen (Monokulturen) fördert die Vermehrungsfähigkeit der „Schädlinge". Einer der wesentlichen Begrenzungsfaktoren, die Beschränkung des Nahrungsangebotes, ist dann entfallen. Monokulturen sind artenämer als gemischte, vielartige Pflanzenbestände. In vielseitigen, artenreichen Lebensgemeinschaften kommt es viel seltener zu Übervermehrungen von Schädlingen, als in einförmigen Lebensstätten.

Der kurzfristig wirkende, wasserlösliche Handelsdünger stört ebenfalls auf Dauer das natürlich vorhandene Gleichgewicht und die biologischen Stoffkreisläufe. Der Landwirt hat das Interesse, einen möglichst hohen Überschuß bei seiner Pflanzenproduktion zu erzielen und dies führt zu einem hohen Einsatz von Dünger, insbesondere Stickstoffdünger. "Die Mineraldünger gehören mit zu den energieintensivsten Produkten, die überhaupt produziert werden. lhre Herstellung und der Transport beanspruchen ungefähr 30% des Gesamtenergieaufwandes der heutigen Landwirtschaft. (...) Bei einer durchschnittlich jährlichen Abnahme der landwirtschaftlich genutzten Fläche im Zeitraum von 1964 bis 1979 um 0,9% stieg der Verbrauch von Stickstoffdüngemitteln je ha landwirtschaftlich genutzten Fläche zwischen 1964/65 und 1979/80 um durchschnittlich jährlich 4,8%." (9)

Die künstliche Ernährung der Pflanze mit Handelsdünger bewirkt eine schnelle Überschwemmung des Wurzelraumes mit hohen Konzentrationen von wenigen Nährstoffen. Die Pflanze kann sich gegen diese Vergewaltigung nicht wehren (Zwangsosmose), bekommt zuviel von einigen, zuwenig von anderen Stoffen. (10) Zu hohe Stickstoffgaben mindern die Haltbarkeit und den Geschmack der Produkte, aber erhöhen die quantitative Ausbeute, auf die Bauern wie Verbraucher bisher einseitig orientiert sind.

top agrar, Nr. 8, 1982Stickstoff kann eine Gefahr für die Umwelt sein, wenn er durch Auswaschungen als Nitrat in Oberflächenwasser oder ins Grundwasser gelangt und sich durch die Einwirkung von Hitze und Bakterien zu dem giftigen Nitrit entwickelt. Bei höheren Konzentrationen im Trinkwasser kommt es besonders bei Kleinkindern zu Sauerstoffmangelkrankheiten und bei zahlreichen Tieren durch Stickstoffüberdüngung zu Schädigungen: "Prof. Bakels, München, berichtete von Verschlechterung der Milchqualität nach Ausbringung von mineralischem Stickstoff auf die Weide (Leukozyten, Anzeichen eines beginnenden Euterkatarrhs). Dieser Effekt konnte durch Benutzen oder Nichtbenutzen gesteuert werden." (11)

Es ist zu erwarten, daß in spätestens 30 Jahren die Energiepreise so hoch sein werden, daß ein sehr großer Verbrauch von Stickstoffdünger für die Bauern wirtschaftlich nicht mehr verkraftbar ist. Schon jetzt wurden die Preise von 1973 bis 1980 für Stickstoffdünger um 85 Prozent, für Kali um 70 Prozent, für Phosphate um 100 Prozent und für Volldünger um 85 bis 90 Prozent gesteigert. Diesen Anhebungen standen im gleichen Zeitraum nur Erlösverbesserungen in Höhe von 25 Prozent bei den Getreideerträgen gegenüber. (12)

Ebenso wie bei der Düngung der Feldfrüchte sind die Agrarfabriken und die bäuerlichen Betriebe bei der Tierproduktion darauf ausgerichtet, die Produktion immer weiter zu steigern. Dies führt zu Haltungsformen, die die Tiere in ihrem Wohlbefinden stark beeinträchtigen und schwerwiegende gesundheitliche Schäden verursachen.

 

Freies Landvolk, Zeitung für die freie Landvolkbewegung, Nr. 11, April 1981Trotz der Dementis von Seiten der Agrarindustrie und vom Bauernverband, sprechen die Fakten eine andere Sprache: "Die Abgänge bei Kühen von Euter- und Klauenerkrankungen haben sich im Zuge einer 'Modernisierung' in der Tierproduktion verdreifacht. (...) Niemand wird auch bestreiten können, daß eine Sau mit Entzündungen von Gesäuge und Gebärmutter schwer leidet. Immerhin sind ihre Schmerzen oft so groß, daß sie jede Futteraufnahme verweigert und die eigenen Ferkel erdrückt, wenn diese versuchen zu saugen. Und diese als MMA-Komplex bezeichnete Krankheit ist ständig im Zunehmen. (...)

Auch die Gelenkentzündungen sind bei Schweinen immer häufiger und jeder Bauer kennt das schmerzvolle Aufschreien solcher Tiere, wenn er versucht, sie aufzutreiben. Oder glaubt man, daß sich die in großen Mastbeständen breitmachende Rhinis atrophicans, bei der sich sogar die Nasenknochen der Tiere auflösen, schmerzfrei ist?" (13) In Produktionszweigen mit starker Tendenz zur Massentierhaltung, wie Hühnerhaltung, Kälber-, Bullen- und Schweinemast, wird heute von vornherein der gesamte Bestand vorbeugend z. B. gegen Durchfälle, Erkältungskrankheiten bekämpft.

Während die Kapitaldecke bei der bäuerlichen Landwirtschaft von Anfang an recht dünn war, konnten sich die kapitalkräftigen Gruppen die Einführung solcher Produktionstechniken leisten, die die menschliche Arbeit erheblich produktiver machten als in den Betrieben der kleineren und mittleren Bauern. Ein Beispiel aus der Schweinemast macht das recht deutlich: Da haben wir zunächst den Schweinemaststall eines Bauern, der pro Mastperiode 100 Schweine faßt, deren Fütterung nicht automatisiert ist. ln diesem Stall muß der Bauer 2,83 Stunden aufbringen, um das einzelne Schwein zur Schlachtreife zu bringen. Auf der anderen Seite haben wir die vollautomatisierte Agrarfabrik, in der pro Mastperiode 2.500 Schweine fett gemacht werden. Für das einzelne Schwein müssen hier nur noch 0,78 Arbeitsstunden aufgebracht werden. Der Großmäster kann durch seine Produktionsweise einen Rohertrag von 60,30 DM in der Stunde einstecken, während es der kleine Mäster nur auf 13,80 DM bringt. (14)

Bernhard Lambert "Bauern im Klassenkampf", Wagenbach Verlag, 1971Kein Wunder, daß immer mehr kleine und mittlere Betriebe bei diesen geringen Erzeugerpreisen aufgeben müssen, und die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ständig abnimmt: 1970 gab es 1.083.100 Betriebe; 1979 gab es 810.000 Betriebe; 1980 gab es 797.500 Betriebe. (15)

Gleichzeitig vergrößerten sich die Einkommensunterschiede innerhalb der landwirtschaftlichen Betriebe enorm. Der Agrarbericht 81 unterteilt die Vollerwerbsbetriebe in vier Gruppen und stellt das Einkommen des oberen und des unteren Viertels gegenüber. Selbst bei diesem statistisch geglätteten Bericht kommt heraus, daß das untere Viertel mit nur 7.586 DM pro Jahr und Familienarbeitskraft an der Sozialhilfegrenze steht, während das obere Viertel mit 57.873 DM das 7,6fache verdient. (16)

Nun fordert der Deutsche Bauernverband eine deutliche Erhöhung der Erzeugerpreise, um angeblich den Ruinierungsprozeß der bäuerlichen Landwirtschaft zu stoppen. Bewirkt wurde allerdings durch diese Maßnahme das Gegenteil: Die Großbauern und Agrarkapitalisten können mit höheren Erzeugerpreisen noch mehr Gewinne anhäufen, mit denen sie Rationalisierungsprozesse in Gang setzen werden. Die noch kleine agrarpolitische Opposition in- und außerhalb des Bauernverbandes fordert deswegen gestaffelte Preiserhöhungen für kleine und mittlere Betriebe, damit sie leben können, ohne wachsen zu müssen und Preissenkung für die Großen, damit ihnen das Wachsen verleidet wird. Die "Paysans-Travailleur" (Arbeiterbauern, sozialistisch) in Frankreich haben ihre Vorschläge für den Milchpreis in diesem Sinne schon konkret formuliert: "Für die ersten 40.000 Liter Milch pro Betrieb soll der Preis um 20% erhöht werden, die nächsten 40.000 Liter erfahren eine 15%ige Preiserhöhung. Was darüber erzeugt wird, soll zu Marktpreisen abgegolten werden." (17)

 

 

BauernverbandGerade die kleinen Betriebe sind es‚ die unsere Landschaft vielfältig gestalten und schützen, während die gut verdienenden Betriebe zur Pflege der Landschaft und zur Erhaltung der Gesundheit der Menschen nichts beitragen. Da der Anteil der Erzeugerpreise an den Verbraucherpreisen ständig gesunken ist, bekommt der Bauer heute durchschnittlich nur noch 43 Pfennig von jeder Verbraucher-Mark. Der Rest geht an die Verarbeitung, die Vermarktung, die Nahrungsmittelindustrie und den Handel. (18) Wie der Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in NRW, Otto Bäumer, an verschiedenen Stellen ausführte, (19) würden alle Agrarsubventionen zusammengenommen 50.000 DM je Vollerwerbsbetrieb ausmachen, wenn sie beim Bauern ankämen. Es wäre also durchaus möglich, die kleinen Betriebe mit Hilfe von sozialen Zuschüssen aufrecht zu erhalten. Diese ungewöhnliche Maßnahme hat noch keine Regierung in der EG ergriffen, denn es bedeutete eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Politik, wenn Zuschüsse nicht mehr an Arbeitslose, sondern als garantiertes Mindesteinkommen an Arbeitende gegeben werden.

Stattdessen geraten die bäuerlichen Familienbetriebe in immer größere Abhängigkeit gegenüber den Agrarkonzernen, da die weiter verarbeitende Industrie standardisierte, regelmäßig zu liefernde Produkte in einer bestimmten Menge fordert. Weil die kleinen Betriebe wegen Kapitalmangel diesen Anforderungen nicht gewachsen sind, entstand in den 60er Jahren die Vertragslandwirtschaft. Die Bauern verpflichteten sich, ihre Produkte genau nach den Vorschriften der Industrie herzustellen, während diese sich bereit erklärte, einen bestimmten Preis zu zahlen. Die Produktionsmittel (z. B. Erntemaschinen) können dabei Eigentum der Industrie sein und die Futter- und Düngemittel werden in der Regel ebenfalls von den gleichen Unternehmen geliefert. Der Bauer stellt bei Vertragslandwirtschaft nur noch seine Arbeitskraft und seinen Boden oder Stall zur Verfügung und ist der Geschäftspolitik der Industrie hilflos ausgeliefert. Gegenüber dem Lohnarbeiter hat er sogar noch die Nachteile, daß er das Produktionsrisiko weiterhin trägt und seinem Unternehmer vereinzelt und unorganisiert gegenübersteht.

Friedrich Pollock "Sozialismus und Landwirtschaft", Plakat-Bauernverlag Die Vertragslandwirte sind noch eine Minderheit, aber die Eigenständigkeit der anderen Bauern wird durch die Konzentration der vorgelagerten Betriebsmittelindustrien und der nachgelagerten Nahrungsmittelindustrien aufgehoben. Traktoren produzieren z. B. nur noch die Firmen Deutz, Fendt, John Deere und Fiat. Im nachgelagerten Bereich ging die Zahl der Nahrungsmitteleinzelhandelsbetriebe gegenüber den Handelsketten zurück. Aufgrund ihrer Marktmacht haben diese Unternehmen die Preise, die sie den Bauern und den Verbrauchern bieten, fest im Griff. "Der Spitzenreiter der Branche Unilever erzielte mit einer Beschäftigtenzahl, die rund ein Drittel der in der Landwirtschaft Tätigen beträgt, rund drei Viertel des Umsatzes des gesamten Agrarsektors." (20)

Auch bei dem zweitgrößten Ausgabenposten der Bauern, den Düngemitteln, beherrschen drei Unternehmen den Stickstoffmarkt: die Ruhr-Stickstoff AG, die BASF und die Farbwerke Hoechst. Diese sind auch noch miteinander verflochten: "Die Ruhrstickstoff AG gehört zu 100% zu den Chemischen Werken Hüls AG, diese gehört zu 80% der VEBA-Chemie AG. Hauptaktionär der VEBA ist der Bund. Der VEBA gehört u. a. zu 50% der Gewerkschaft Victor (über CWH), die anderen 50% gehören der Wintershall AG, die wiederum zu 95% der BASF gehört." (21)

Durch Absprachen untereinander können die drei Konzerne den Verhandlungsspielraum der Bauern bei diesem wichtigen Betriebsmittel so sehr einengen, daß sie keine Chance mehr haben, als gleichberechtigte Geschäftspartner aufzutreten. Die Auffassung, daß der Bauer ein freier "Unternehmer" sei, hatte vor über 100 Jahren einmal seine Berechtigung, als er noch im Besitz seiner eigenen Produktions- und Betriebsmittel war. Doch heute, wo der wirtschaftlich Stärkere unbehelligt die Schwächeren in seine Abhängigkeit bringen kann, ist das Etikett Unternehmer für einen Bauer denkbar unangebracht.

Um sich gegenüber dem übermächtig werdenden Handel und der Konzentration des Kapitals in wenigen Händen zur Wehr setzen, griffen schon im 19. Jahrhundert die Bauern zur Selbsthilfe und gründeten Waren- und Kreditgenossenschaften. Alle Mitglieder waren gleichberechtigt und hatten gleichen Einfluß auf die Geschäftspolitik der Genossenschaften. Doch schon sehr bald brachten die mächtigeren und angeseheneren Bauern die Vorstände in ihre Hand und bestimmten die Geschäftspolitik. Das Prinzip "ein Mann - eine Stimme" wurde aufgehoben und große Kapitalgeber erhielten mehrere Stimmen. Anstatt allen Genossen möglichst viele Vorteile zu bieten, strebte das Management danach, bei den Erzeugerpreisen der Bauern die Kosten so niedrig wie möglich zu halten, während die Bauern an möglichst hohen Preisen interessiert sind. Die Genossenschaft verhält sich also wie jedes andere Unternehmen auch.

Autorenkollektiv: Agrarprobleme und Bauernkämpfe in Westeuropa, Plakat-Bauernverlag, 1976Wenn es um Entscheidungen bei der Geschäftspolitik oder um die hohen Gehälter der Vorstandsmitglieder geht, haben die Bauern nichts mehr zu sagen: "Gegenüber dem hauptberuflichen Management der Genossenschaften haben die Bauern keine Chance. Die paar Vorzeige-Bauern in Vorständen und Aufsichtsräten der Zentralgenossenschaften können daran nichts ändern. Die Hauptamtlichen haben den großen Durchblick, sie entscheiden, was die anderen an Unterlagen überhaupt zu Gesicht bekommen. Von ihrer Ausbildung her sind sie Betriebswirte oder Kaufleute, auf den Hochschulen gedrillt, maximale Gewinne herauszuholen.” (22) Bei dem Bezug von Dünger oder Futtermittel werden die "Genossen" nach der Leistungsfähigkeit selektiert. Bauern mit einer größeren Lagerkapazität und Abnahmemenge erhalten höhere Rabatte als andere Genossen, die diese Möglichkeit nicht haben. Obwohl andauernd der vielbeschworene Gleichheitsgrundsatz verletzt wird, ziehen die Genossenschaften immer noch propagandistischen Nutzen aus der längst von der Wirklichkeit widerlegten Vorstellung, sie seien die Stütze des kleinen Bauern.

Viele Vorstandsmitglieder der Genossenschaften haben zusammen mit ihren Kollegen von den Aufsichtsräten der Nahrungsmittelindustrie und den Großbauern alle wichtigen Funktionen im Deutschen Bauernverband (DBV) besetzt. Da die Kleinbauern nicht genug Zeit haben, um sich mit der Verbandspolitik zu beschäftigen, können sich das nur die Großbauern leisten, weil sie meist über Lohnarbeiter verfügen, die die Arbeit auf dem Bauernhof verrichten. Aufgrund des hierarchischen innerverbandlichen Wahlsystems hat die Basis nur geringe Kontrollmöglichkeiten über die Verbandspolitik. Denn die Vorstände der unteren Verbandsebene wählen immer die Vorstände der nächst Oberen.

 

 

Bauernverband-PolitikWährend bis 1971 jeder Landesbauernverband eine Stimme hatte, wurde danach für jede gezahlten 20.000 DM Jahresbeitrag dem betreffenden Landesverband eine Zusatzstimme zugesprochen und so eine Art Klassenwahlrecht geschaffen. Wegen der Zusammenarbeit zwischen DBV, den Genossenschaften und der Industrie richten sich die Forderungen nach Erhöhung der Verkaufspreise für landwirtschaftliche Produkte immer nur gegen die Regierung und die EG, nicht aber gegen die eigentlichen Verursacher. Schwere Konflikte über die Ausrichtung der Verbandspolitik hat es bisher nicht gegeben, weil ein einheitliches Wert- und Normensystem und die bäuerliche Außenseiterrolle in der Industriegesellschaft die Mitglieder zusammenhält. Die landwirtschaftliche Presse ist fest in der Hand des Bauernverbandes und unterdrückt fast jede kritische Stellungnahme.

Erst als 1976 der Arbeitskreis Junger Landwirte (AKJL) in Bondorf das "Bauernblatt" (23) ins Leben rief, hatte sich die fortschrittliche Opposition im Bauernverband ein Organ geschaffen, in dem die Sorgen und Nöte der Klein- und Mittelbauern offen diskutiert werden konnten. Neben einer Anzahl von weiteren selbständigen Arbeitskreisen, die sich bundesweit um diese Zeitung gruppieren, wird das "Bauernblatt" auch von Mitgliedern der "Landjugend" gelesen und unterstutzt. Sie ist zwar vom Bauernverband finanziell abhängig und gilt als seine jugendorganisation, doch kommt es immer wieder zu Stellungnahmen und Aktionen, die von der offiziellen Verbandspolitik abweichen und zu heftigen Auseinandersetzungen führen.

 

Bauernblatt, Eine Zeitung von Bauern für Bauern, Nr. 17, August 1980Innerhalb der Arbeitskreise scheiden sich die Geister an der Frage, ob es noch Sinn hat, im Bauernverband zu arbeiten oder ob man eine eigene klein- und mittelbäuerliche Vereinigung gründen soll. Angesichts der zahlenmäßigen Schwäche der agrarpolitischen Opposition stehen realistischerweise erst einmal praktische Probleme im Vordergrund. Die schlechten Erfahrungen mit den Genossenschaften legen den Bauern eine erneute Beschäftigung mit wirklichen Selbsthilfeeinrichtungen und Selbstvermarktungsformen für ihre Produkte nahe. Erste Ansätze einer kritischen Konsumentenbewegung könnten von diesen Einrichtungen genutzt werden, um einer auskömmlichen, im Einklang mit der Natur stehenden Landwirtschaft näher zu kommen, ohne dabei einseitige Abhängigkeiten zu schaffen.

Anmerkungen

1) M-Frühling, Herausg. v. Hans A. Pestalozzi. S. 155

2) "Bauernblatt", Nr. 22, S. 4

3) Prof. Heiner Sommer, Bonn, am 5. Juni '81 in "Die Zeit"

4) Öko-Mitteilungen", Nr. 7, Öko-Institut Freiburg

Bauernverband5) ebd.

6) ebd.

7) ebd.

8) Lindberg: "Krankheitserscheinungen mitPflanzenschutzmitteln", S. 25

9) IFOAM (Internationale Vereinigung biologischer Landbaubewegung), Heft 37

10) Hans A. Staub: Alternative Landwirtschaft", S. 106

11) ebd.

12) IFOAM, a.a.O.

13) Prof. Heiner Sommer, a.a.O.

14) Diese Daten stammen aus: "Freies Landvolk", Nr. 11, S. 4

15) "Agrarbericht 81" des Bundesministers für Ernährung Landwirtschaft und Forsten, S. 9

16) ebd.

17) Heiner Simon in "Freibeuter", Nr. 6, S. 54

18) "Freie Aussprache", Westf. Lipp. Landjugend, Tabelle 63592

19) Dialog 81, "Gesunde Landschaft, gesunde Ernährung", S. 18

20) Jens Dau in "Forum E”, 5/6, 1976, S. 8

21) "Bauernblatt", Nr. 19, S. 8

22) Onno Poppinga in seinem Beitrag "Bauern in der Bundesrepublik Deutschland" in dem Buch "Landleben", S. 310

23) "Bauernblatt", Oberhofweg 1, 7274 Haiterbach, erscheint zweimonatlich und kostet im Jahr 15,- DM

 

Aus: "Unsere Zukunft ist nichts ohne Änderung der Gegenwart. Zustände", AHDE-Verlag, Berlin, 1981. Autoren: Heinrich Böll, Hans-Jürgen Degen, Ossip K. Flechtheim, Wolfgang Luthardt, Helmut Ahrens, Lutz Mez, Horst Blume, Karla Beckmann, Joachim Blanck, Christoph Geist, Theodor Ebert.

Anmerkung 2

Die im Text erwähnte Zeitung "Bauernblatt" heißt heute "Unabhängige Bauernstimme" und erscheint inzwischen seit 40 Jahren monatlich. Infos: http://www.bauernstimme.de/

 

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