Aus: "Schwarzer Faden", Nr. 4, 1981

MIGROS-Genossenschaft: Wie lange währt der Frühling?

1925 wurde das Lebensmittel-Einzelhandelsunternehmen MIGROS von Gottlieb Duttweiler gegründet. Sein Ziel war es, durch möglichst wenig Aufwand und knappe Kalkulation die Preise niedrigzu halten und dabei noch Ware von guter Qualität zu liefern. Das Konzept ging auf. Bis zum Ende des 2. Weltkriegs wurden ca. 100 Verkaufsstellen gegründet.

MigrosDa Duttweiler ein sozial denkender Unternehmer war, wandelte er 1941 sein Unternehmen in eine Genossenschaft um. Die Genossenschaftsanteile von 10 Fr. werden den neu eintretenden Genossenschaftlern geschenkt.

Inzwischen gibt es 1,1 Millionen Genossenschaftler, d.h. rund die Hälfte aller Haushalte der Schweiz sind Eigentümer der MIGROS. Dementsprechend aufgebaut ist auch die Organisationsstruktur: In den 12 Regionen gibt es Genossenschaftsräte, die je nach Größe zwischen 30 und 125 Mitglieder haben; die Verwaltung (zwischen 4 und 7 Mitglieder) und die Delegiertenversammlung des Genossenschaftsbundes.

Da eine Genossenschaft keine Gewinne machen darf, musste die MIGROS sie entweder an ihre Genosseneschaftler ausschütten oder die Preise senken. Die MIGROS tut keins von beiden: Der Gewinn wird investiert und das Unternehmen wächst und wächst. Die ursprünglichen Ideale der Genossenschaft wie gegenseitige Hilfe, Mitbestinmung und Schutz des einzelnen wurden vollständig in den Hintergrund gedrängt.

Heute ist die MIGROS ein Unternehmen‚ das im Sektor des Lebensmittelhandels und der Dienstleistungen eine monopolähnliche Stellung einnimmt und dadurch die Preise der Produzenten bestimmen kann. Für die zahllosen MIGROS-Filialen kauft der MIGROS-Bund dort ein, wo die Waren billig sind. Und die Waren sind billig, weil entweder die Rohstoffe, ihr Herstellungsverfahren oder die Arbeitslöhne geringe Kosten verursachen. Und damit es noch billiger wird, werden möglichst große Mengen eingekauft und so kann das große Abnahmevolumen als Druckmittel gegen die Lieferanten eingesetzt werden.

Die günstigen Preise entstehen also nicht durch die organisatorischen Vorteile des zentralen Verteilsystems, wie dies die MIGROS-Geschäftsleitung es uns weismachen will‚ sondern aus harten Bedingungen den Lieferanten gegenüber. Die MIGROS übernimmt rund einen Viertel des Bruttoeinkommens der Schweizer Landwirtschaft und gehört ohne Zweifel zu den Hauptinitiatoren der industriellen Tierhaltung. Sie ist landesweit der größte Betreiber von Tierfabriken.

Migros-Frühling-Zeitung vom 13. Mai 1980, Nr. 4/5Seit 1979 gibt es eine Opposition gegen die Geschäftspolitik des Vorstands. Sie nennt sich "M-Frühling" und versucht innerverbandlich die MIGROS umzukrempeln und auf einen Weg zu bringen, der mit ökologisch, dezentral und bedürfnisgerecht umschrieben werden könnte. Das heißt für den Bereich der Landwirtschaft:

"Wir wollen in unserer Geschäftspolitik den Belangen der Bauern die gleichen Rechte einräumen, wie den Konsumenten. In diesem Sinn wollen wir zur Sicherung der Existenzgrundlage der bäuerlichen Familienbetriebe‚ auch Klein- und Bergbauernbetriebe‚ und zur Wahrung ihrer Eigenständigkeit beitragen. (...) Unverzüglich einleiten werden wir:

+ Die umfassende lnformation der Bevölkerung über die Zusammenhänge zwischen Konsument und Produzent.

+ Die Überprüfung der Lieferverträge mit bäuerlichen Produzenten zur Korrektur einseitiger Abhängigkeiten

+ Die Förderung einer gesunden Zucht und Haltung der Nutztiere und die Verbesserung der Transporte und Tötungsmethoden der Tiere.

+ Die breite Erprobung von Methoden auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus

+ Breite öffentliche Diskussion über die Kostenwirkungen einer neuen Landwirtschaftskonzeption und deren Konsequenzen für den Konsumenten."

(Aus: M-Frühling-Leitbild)

"Vom Migrosaurier zum menschlichen Mass"In seinem "utopischen" Entwurf sieht Ruedi Albonico in dem Buch "Vom Migrosaurier zum menschlichen Maß" an Stelle der großen MIGROS-Supermärkte "Konsumenten/Produzenten-Kontaktstellen" (KPK's) vor, welche autonom aber untereinander föderiert sind. Jede KPK hätte Produzenten und Konsumenten als Genossenschaftler‚ die sich intensiv untereinander austauschen und mit den Betroffenen direkt zusammenarbeiten.

Dabei soll die Initiative zur Selbsthilfe nicht gelähmt werden, sondern die MIGROS würde sich nur dort engagieren‚ wo es sonst niemand tut (z.B. Forschung). Die Macht will Ruedi Albonico bei einer alternativen MIGROS lieber abgebaut haben, aber da es noch andere Mächtige gibt‚ will er für eine Übergangszeit die organisatorischen Möglichkeiten der MIGROS für den Kampf gegen andere marktbeherrschenden Konzerne ausnutzen.

Die erfreuliche Belebung der Opposition gegen die offizielle MIGROS-Politik hat auch die Linke in der Schweiz aufhorchen lassen‚ denn im M-Frühling haben sich Konservative, Liberale, Sozialisten und Grüne zusammengefunden, um ihre Anliegen so zu formulieren, daß sie Grundlage der konkreten Geschäftspolitik hätten werden können. Anlaß dazu waren die Genossenschaftswahlen im Herbst 1980. Bisher wurde die Genossenschaftsdemokratie nicht verwirklicht: Offene Wahlen fanden nie statt, weil die Verwaltung immer nur so viele Kandidaten aufgestellt hat, wie Sitze zu vergeben waren. Die Genossenschaftler wurden zwar laufend über finanzielle Vergünstigungen informiert, aber nicht über ihre Rechte und ihre Mitverantwortlichkeit für die Politik der MIGROS.

Um dies zu ändern, hat der M-Frühling landesweit 500 Kandidaten aufgestellt und dafür 20 000 Unterschriften unter den Genossenschaftlern gesammelt. Von der Geschäftsleitung wurden dem M-Frühling allerlei Steine in den Weg gelegt. Z.B. waren ganz zufällig keine Aufnahmescheine für zukünftige Genossen mehr vorhanden; die Opposition wurde "als vermutlich von außen gesteuert" diffamiert und hatte nicht die Möglichkeit, sich in genossenschaftseigenen Publikationen darzustellen.

Trotz kurzer Vorbereitungszeit auf die Wahl bekam der M-Frühling 20% der Stimmen, in Zürich sogar 25%. Insgesamt machen das 80 000 Genossenschaftler aus. Die Leute vom M-Frühling werten das Wahlergebnis als einen sensationellen Erdrutsch: Man stelle sich vor, auf politischer Ebene würden die Grünen bundesweit über 20% der Stimmen erhalten.

Der M-Frühling ist ohne zentrale Organisation und große Geldmittel ausgekommen. Dafür hat er mit vielen Umweltschutz- und Verbraucherorganisationen zusammengearbeitet. Prominente Persönlichkeiten gaben ihren Namen her und formulierten in den 6 Ausgaben der "M-Frühlings-Zeitung" (Auflage: 150 000) ihre Alternativen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sich die Arbeit der 5000 M-Frühlings-Mitglieder bis zu den Wahlen auf propagandistische und wahlkampftechnische Bereiche konzentriert hat und projektbezogene Arbeitsgruppen in den Hintergrund getreten sind.

"Migros-Frühling" vom 16. März 1981, Nr. 1/81Nach den Wahlen stellte sich nun die Frage, wie es mit den Aktivitäten des M-Frühlings weitergehen Soll. Sehr interessant schien mir der Vorschlag zu sein‚ nicht weiter innerverbandlich zu arbeiten, sondern selber ein alternatives Genossenschaftsnetz aufzubauen. Berchtold Moser schlug in der Nr.6 der M-Frühlings-Zeitung vor, Verkaufslokale für ein reduziertes Sortiment an Grundnahrungsmitteln zu eröffnen und lokale Genossenschaften zu gründen‚ die je zu einem Drittel von den Produzenten, Konsumenten und Angestellten getragen werden.

Dieser Vorschlag wurde so nicht weiterverfolgt‚ weil die Mehrheit der M-Frühling-Gefolgschaft das Opponieren innerhalb der MIGROS als primäre Aufgabe ansieht. Durch das Initiativrecht besteht die Möglichkeit, eigene Forderungen in die Statutenbestimmungen einfließen zu lassen. Wenn innerhalb von 6 Monaten 5000 Genossenschaftler hinter eine Forderung gebracht werden, dann muß der MIGROS-Bund bei der alljährlichen Urabstimmung darüber entscheiden. Inzwischen gibt es in den Regionalorganisationen des M-Frühlings Arbeitsgruppen, die thematische Anliegen bearbeiten und mit zahlreichen Veranstaltungen hervortreten. Als nächstes sind gesamtschweizerisch zwei Initiativen geplant:

1. Durch die Einkaufspolitik soll eine bäuerliche‚ tierfreundliche und umweltgerechte Landwirtschaft gefördert und auf den Vertrieb von Produkten aus industrieller und intensiver Tierhaltung verzichtet werden.

2. Das Majorsystem, welches verhindert, daß Minderheiten berechtigte Anliegen in die MIGROS einbringen können, ist zu Gunsten des Proporzsystems abzuschaffen. Das Meinungsspektrum der Genossenschaftler wäre in einem nach dem Proporz gewählten Genossenschaftsrat präziser abgebildet.

Wie nun die verbandsinternen Auseinandersetzungen zwischen den Alternativen und dem Vorstand ausgehen werden, kann noch nicht gesagt werden. Unschwer ist allerdings zu erkennen, daß sich die Verwaltung nach Kräften bemüht, die Genossenschaftademokratie weiterhin einzuschränken und die Alternativler dann gezwungen sind, sich in einem Papierkrieg zu verzetteln und die eigentlichen inhaltlichen Ziele aus den Augeh verlieren.

Es wird jedoch noch eine andere Möglichkeit ins Auge gefaßt: Nach dem Motto "das eine tun und das andere nicht lassen" haben 200 Genossenschaftler in Bern einen vorher eingegangenen Quatierladen übernommen und versuchen so außerhalb der MIGROS-Organisation aktiv zu werden. Durch direkte Lieferungen der Bauern aus der Region wird der Zwischenhandel ausgeschaltet. Die mässigen Löhne der Angestellten bewirken trotz niedriger Ladenpreise höhere Erlöse für die Bauern.

M-Frühling"In welcher Stadt, in welchem Dorf folgt wohl der nächste, übernächste Genossenschaftsladen? Wo geht der Frühling der Konsumenten und Produzenten weiter?" fragt die M-Frühling-Zeitung und sieht damit möglicherweise eine Entwicklung kommen, an dessen Ende eben doch eine verstärkte genossenschaftliche Eigenaktivität und ein Abwenden vom verbandsinternen Hick-Hack zu verzeichnen ist.

In mehrfacher Hinsicht sind die Voraussetzungen für ein allmähliches Verdrängen der bestehenden Ökonomischen Strukturen von unten her in der Schweiz aussichtsreich und haben den bisherigen Erfolg des M-Frühlings mitbegründet:

Durch die Volksentscheide besteht die Möglichkeit, günstigere Begleitumstände für Veränderungen zu schaffen und mehr Menschen in den Meinungsbildungsprozeß einzubeziehen.

Die Selbstverwaltung ist nicht nur in linken Zirkeln ein Thema, sondern wird auch von der Sozialdemokratie aufgegriffen. Es gibt in der SP starke Bestrebungen, die Selbstverwaltung zu einem zentralen Punkt in dem neu zu erarbeitenden Parteiprogramm zu machen.

Es bestehen noch verhältnismäßig viele kleine und mittelgroße bäuerliche Betriebe, die für eine alternative Lebensmittelversorgung der Schweiz geeignet wären. Eine eigene Klein- und Mittelbäuerliche Vereinigung hat sich schon gebildet.

Leider habe ich vergebens nach libertären Genossen im M-Frühling-Umkreis gefragt. Lediglich folgende sehr kennzeichnende Zeilen erhielt ich von einem anarchistisch inspierierten Buchladenprojekt: "Man muß den MIGROS nicht aufgrünen, sondern abschaffen. Ladendiebstahl lohnt sich."

Nun, wer seine Handlungsmöglichkeiten nur innerhalb so enger destruktiver Reaktionen sieht, darf sich nicht wundern, daß die anarchistische Bewegung nur auf ein paar veraltete Beispiele in Spanien zurückgreifen kann, wenn es darum geht, anderen Menschen unsere Zielvorstellungen näher zu erklären.

Für diejenigen, die sich für den M-Frühling interessieren, hier die Anschrift:

M-Frühling, Postfach 219 , CH-8021 Zürich

Nachbemerkung:

In "Schwarzer Faden" Nr. 5 (1981) wurden zwei längere Leserbriefe zu diesem Artikel abgedruckt. In "Schwarzer Faden" Nr. 15 (1984) veröffentlichte ich einen weiteren Artikel über den Migros-Frühling:

http://www.machtvonunten.de/landwirtschaft.html?view=article&id=358:migros-opposition-am-ende&catid=23:landwirtschaft

 

 

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