Aus: "Anti Atom Aktuell", Nr. 202, September 2009
Jülich: Alles Vergessen Reicht - AVR!
Am 18. Juli 2009 sorgte eine Vorabmeldung auf Spiegel-Online für Aufsehen und ein breites Medienecho von der Aachener Zeitung bis hin zum WDR: "Der Betrieb des 1988 abgeschalteten Forschungsreaktors in Jülich hat möglicherweise ein politisches Nachspiel. Wie der SPIEGEL in seiner jüngsten Ausgabe berichtet, geht das Bundesumweltministerium der Frage nach, ob Betreiber und Atomaufsicht in Nordrhein-Westfalen eventuell versagt haben. Hintergrund für den überraschenden Vorstoß ist die extrem starke radioaktive Kontamination des Reaktorkerns.
Einer wissenschaftlichen Analyse zufolge ist der Forschungsreaktor über Jahre hinweg mit viel zu hohen Temperaturen betrieben worden und möglicherweise nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert. Durch die Verwendung unausgereifter Brennelemente und die hohen Temperaturen, so Rainer Moormann, der Autor der Studie, der jahrelang in der Sicherheitsforschung in Jülich gearbeitet hat, sei der Reaktorkern mit extrem hohen Mengen radioaktiver Isotope verunreinigt. Nach Ansicht des Darmstädter Öko-Instituts handelt es sich aufgrund der hohen Kontamination um einen der "problematischsten Reaktoren weltweit".
Über diese Probleme berichtete der THTR-Rundbrief zwar bereits vor knapp einem Jahr, aber erst jetzt, wo ein renomiertes Nachrichtenmagazin sich dieser Nachricht annimmt, bekommt sie im Wahlkampf mehr Schwung. Denn der THTR und die Generation IV-Reaktoren sind nach Ansicht der schwarzgelben Koalition in NRW besonders förderungswürdig und könnten bei einer ähnlichen parteipolitischen Konstellation auf Bundesebene nach der nächsten Bundestagswahl die Renaissance der Atomkraft in der BRD einläuten. Gerade jetzt kommt ein kritischer Bericht für die Atomindustrie und ihren Parteien sehr ungelegen.
Verstrahlter Reaktor
Der Spiegel schreibt in seiner Printausgabe vom 20. Juli 2009 über den 1988 stillgelegten Jülicher THTR: "Der Reaktorkern ist mit hohen Mengen radioaktiver Isotope wie Cäsium-137 und Strontium- 90 verseucht. Zudem schlummert in seinem Innersten eine tückische Fracht: 198 kugelförmige Brennelemente, teilweise mit hochangereichertem Uran, die sich verhakt haben und nicht mehr herausholen lassen. In zwei Jahren soll der Kern in einem eigens gebauten Zwischenlager auf dem Gelände des Forschungszentrums eingeschlossen werden.
Es ist einer der kompliziertesten und gefährlichsten Rückbauten einer Atomanlage, den die Welt bislang gesehen hat. Ein ganzer Reaktorkern, 2100 Tonnen schwer, wird aus seinem Gehäuse herausgeschnitten. Sieben Spezialkräne wuchten den 26 Meter hohen Koloss in die Horizontale und betten ihn dann auf einen gigantischen Luftkissenschlitten. Der Reaktor ist im Innern dermaßen radioaktiv kontaminiert, dass die Aufräumtrupps ihn noch nicht zerlegen und in Behälter einschweißen können. Seine Strahlung soll hinter tonnenschweren Betonwänden auf dem Forschungsgelände 30 bis 60 Jahre abklingen, bevor Sägeroboter ans Werk gehen können."
Radioaktivität im Grundwasser
Bei dem AVR handelt es sich mit seinen 15 MW elektrischer Leistung um einen winzigen Versuchsreaktor. Der ebenfalls pannenträchtige THTR in Hamm-Uentrop hat eine zwanzigmal höhere Leistung. Welche Probleme beim Abbau ungleich größerer Reaktoren auftreten werden, ist völlig ungewiß. - Der Spiegel beschreibt noch einen weiteren Störfall mit Folgen im THTR Jülich: "Den Reaktor wegen des bauartbedingten Sicherheitsrisikos vorzeitig stillzulegen kam den Betreibern nicht in den Sinn, auch nicht, als 1978 rund 30 Kubikmeter Wasser aus einem leckenden Rohr in den Reaktor tropften. Es wurde nur abgepumpt. Selbst dabei passierten Fehler. Ein Teil des Wassers lief durch eine Bodenfuge ins Grundwasser. 21 Jahre später wurde bei einer Routinemessung in einem Regenwasserkanal Strontium-90 aufgespürt. (...)
Wie bei der Anlage in Karlsruhe sind auch in Jülich die Kosten der Entsorgung explodiert: Am Anfang wurden 34 Millionen D-Mark veranschlagt, inzwischen ist von 500 Millionen Euro die Rede - allein für die Reaktorentsorgung." Nun lässt Umweltminister Gabriel wenige Wochen vor dem Ende seiner Amtszeit pikanterweise prüfen, ob Betreiber und Atomaufsicht in NRW im altsozialdemokratischen Musterland etwas falsch gemacht haben. Als ob die SPD-Landesregierung (am Kernforschungszentrum Jülich beteiligt) und die am AVR-Reaktor ebenfalls beteiligten SPD-geführten Kommunen jahrzehntelang versagt haben. Originell ist Gabriel ja. Er prüft sogar, ob er selbst als Umweltminister von Niedersachsen bei Asse untätig war ....
Kritische Studie stört
Auch die NRW-Grünen sind nicht untätig geblieben und beantragten am 24. 2. 2009 einen Bericht der Landesregierung über neue Erkenntnisse über die AVR-Probleme. Denn: "Unter dem Titel ,,Eine sicherheitstechnische Neubewertung des Betriebs des AVR-Kugelhaufenreaktors und Schlussfolgerungen für zukünftige Reaktoren" hat Dr. Rainer Moormann vom Institut für Sicherheitsforschung und Reaktortechnik des Forschungszentrums Jülich im vergangenen Jahr eine Studie veröffentlicht, die erhebliche Zweifel an der Sicherheit des früheren Betriebs des AVR Jülich im speziellen und an dem Konzept der Kugelhaufenreaktoren im allgemein aufkommen lässt. Nach dieser Veröffentlichung scheinen unkontrolliert hohe Temperaturen (über 1. 100 Grad C) hauptverantwortlich für die starke radioaktive Kontamination des Reaktorbehälters zu sein. Es ist davon auszugehen, dass demnach der AVR weit außerhalb sicherheitstechnisch zulässiger Grenzen betrieben wurde - einschließlich aller damit verbundenen Risiken."
Der Versuchsreaktor AVR war ein heliumgekühlter graphitmoderierter Hochtemperaturreaktor mit kugelförmigen Brennelementen ("Kugelhaufenreaktor"). Seine thermische Leistung betrug 46 MW, die elektrische Bruttoleistung 15 MW. Aufgabe der Anlage war es, den vermeintlich sicheren Betrieb und die Verfügbarkeit dieses neuen Reaktortyps zu demonstrieren, Komponenten und insbesondere HTR-Brennelemente zu erproben sowie reaktortypbezogene Experimente durchzuführen. Nach 21 Betriebsjahren und einer Serie von gravierenden Pannen und Problemen wurde die Anlage am 31.12.1988 endgültig abgeschaltet.
Das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie das Landes NRW betonte in ihrer Antwort vom 30. 6. 2009: "Abschirmung und Einschluss haben ausreichende Vorsorge gegenüber hoher Primärkreiskontaminationen geboten. So wurde auf ein Konzept mit kompaktem Einschluss aller Primärkomponenten in einem doppelwandigen Reaktordruckgefäß gesetzt, welches wiederum von einem druckfesten Containment (Schutzbehälter) umschlossen ist."
NRW-Landesregierung gibt zu: 1280 Grad C sind heiß!
Es wäre ja auch schlimm, wenn es nicht so wäre. Soweit die Binsenwahrheit. Doch darüberhinaus kommt das Thoben-Ministerium nicht darum herum, die Angaben der neuen Jülicher Studie offiziell zu bestätigen: "1986 wurde eine erneute Temperaturmessung mit Schmelzdrahtkugeln im Reaktorkern durchgeführt, bei der an den entnommenen Temperaturmesskugeln teilweise höhere Temperaturen festgestellt wurden, als auf Grundlage der Heißgastemperaturmessung zu erwarten gewesen wären. Im Ergebnis der Auswertung der Temperaturmessung wurden lokal im Reaktorkern gegenüber den erwarteten Brennelementbetriebstemperaturen von 1.100 - 1.200°C erhöhte Brennelementbetriebstemperaturen oberhalb von 1280°C festgestellt. Die Tatsache hoher Kerntemperaturen, die mittels der Schmelzdrahtversuche durch den Betreiber festgestellt wurden, wird im Bericht JüI- 4275 richtig beschrieben."
Allerdings relativiert die CDU/FDP-Landesregierung das Ergebnis der kritischen Studie. Die Radioaktivität konnte aus den Kugeln entweichen, aber da gabs glücklicherweise noch eine weitere Barriere: "Die in der Anfrage angesprochenen 'unkontrolliert hohen Temperaturen' gemäß Bericht Jül-4275 beziehen sich auf die Spaltproduktfreisetzungen aus Brennelementen bei Betrieb mit erhöhten Brennelementtemperaturen und die damit verbundenen Kontaminationsbeiträge innerhalb des Reaktorbehälters. (...) Insbesondere fand der damalige Betrieb des AVR-Versuchskernkraftwerkes, wie oben ausgeführt, innerhalb des genehmigten Rahmens statt und nicht außerhalb der sicherheitstechnisch zulässigen Grenzen, wie in der Anfrage von Herrn Priggen vermutet."
Gabriel untersucht NRW-Altgenossen
Gabriels Altgenossen in NRW, denen die CDU/ FDP-Koalition hiermit einen nachträglichen Persilschein ausgestellt hat, werden es mit Zufriedenheit zur Kenntnis nehmen. Die Studie von dem kritischen Wissenschaftler Rainer Moormann hat inzwischen so viel Staub aufgewirbelt, dass im Licht dieser Erkenntnisse der nukleare Heiligenschein der Generation IV-Reaktoren sogar auf internationaler Ebene verblasst. Zu offensichtlich liegen die Probleme des Kugelhaufenreaktors auf der Hand. Wenn CDU und FDP immer noch auf diese Reaktorlinie setzen, zeigt das nicht wie borniert und verblendet sie sind. Das sind viele andere auch, die Freunde des sozialdemokratischen Staatsreaktors THTR haben es in den 60er und 70er Jahren vorgemacht. Aber mit der zentralistischen Atomenergie können die Energiekonzerne genauso wie mit der zentralistischen Sonnenenergie aus Afrika oder riesigen Kohlekraftwerken sehr viel Geld verdienen.
Dies ist der Kernpunkt. Und "Der Spiegel" schimpft lautstark wie in den 60ern: "Es ist immer dasselbe Muster: Erst befeuerten Unternehmen Atomprojekte aus Profitgründen, dann ließen sie den Staat mit der Verantwortung allein".
Anhang:
Im THTR-Rundbrief Nr. 143 (2014) wird ausführlich auf die aktuelle Störfalldiskussion eingegangen:
http://www.reaktorpleite.de/thtr-rundbrief.html
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