Aus: "Graswurzelrevolution" Nr. 390, Sommer 2014

Menschen nach Fukushima: "Wir sind wütend!"

Der opulente Text- und Bildband des Journalisten Alexander Neureuter ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, weil er jenseits der tagespolitischen Katastrophenmeldungen aus Fukushima japanspezifische Hintergründe und die prekäre Situation der betroffenen Menschen ins Blickfeld rückt.

Auf welch haarstäubende Weise in Japan bewusste Desinformation von Reaktorbetreiber TEPCO, dem Staat und den Me­dien betrieben wird, dürfte auch viele AKW-GegnerInnen in Europa in Erstaunen versetzen.

fukushima360gradNeureuter berichtet über die geradezu surreale Szenerie einer typischen TEPCO-Pressekonferenz im Jahr 2013 zur aktuellen dramatischen Situation in den Reaktoren. Nach einer steifen Begrüßungszermonie werden den JournalistInnen von vier Angestellten 53 eng beschriebene Seiten mit unübersichtlichen Diagrammen und Tabellen übergeben, die diese mit einem Bückling unterwürfig in Empfang nehmen.

Anschließend leiert der TEPCO-Sprecher missmutig-gelangweilt Messergebnisse herunter, die nur ein Atomphysiker deuten könnte. "Kurzes Schweigen. Keine Fragen".

Nach 25 Minuten ist alles vorbei. Die Öffentlichkeit erfährt durch die Medien von den katastrophalen Zuständen nichts, dafür sorgen die ca. 200 Millionen Euro jährlich von TEPCO für Imagepflege, Werbung und Sponsoring der Nachrichtensendungen im Fernsehen. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass die großen Zeitungen und Nachrichtenkanäle ihre Büros direkt in den Institutionen haben, über die sie berichten. Nur handverlesene, willfährige JournalistInnen dürfen in die Presseclubs von Behörden oder Konzernen, in denen sie mit detaillierteren Informationen versorgt werden.

Neureuter berichtet, dass er während der TEPCO-Pressekonferenzen von seinen eigenen KollegInnen wegen seiner kritischen Fragen angepöbelt wurde. Eine Anmerkung zum aktuellen Zustand des dritten Reaktors während seiner Fernsehsendung 2011 führte zu seiner sofortigen fristlosen Entlassung beim japanischen Sender direkt nach dem Filmabspann. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" stufte in ihrem Bericht zur Pressefreiheit Japan wegen der massiven Einschränkung der freien Berichterstattung zu Fukushima von Platz elf auf Platz 53 im Jahr 2013 herab. Parallelen zur US-amerikanischen Militärzensur zu Ver­tuschung der Folgen nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki 1945 drängen sich auf.

Ausführlich lässt Neureuter betroffene Menschen zu Wort kommen. Darunter sind auch Ältere, die sich daran erinnern, dass nach 1945 Atombombenopfer oft als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, aus fadenscheinigen Gründen teilweise keine Opferausweise erhielten, sich sogar versteckten, um nicht als Aussätzige ausgegrenzt zu werden. Ähnliche Mechanismen beobachten sie heute nach der Reaktorkatastrophe: Mit verstrahlten Menschen sollte man besser nicht gesellschaftlich verkehren und sie auf keinen Fall heiraten. Die psychosozialen Folgen sind immens. In einigen Gegenden entsteht eine Konkurrenz um knappen Wohnraum, Arztterminen und Arbeitsplätzen zwischen zugezogenen Atomflüchtlingen und Einheimischen.

Fukushima-Demo in Hamm 2011, Foto: Horst BlumeAn der Spitze der nur langsam gewachsenen japanischen Anti-Atombewegung steht auch der bekannte TV-Serienheld Taro Yamamoto, der seinen Job aufgeben musste und sich nun ganz seiner neuen Aufgabe widmet. Seiner Meinung nach geht die "typisch japanische Mentalität" auf die Edo-Shogunzeit im 17. Jahrhundert zurück.

"Seit damals gilt es als höchste Tugend, sich immer völlig unauffällig zu verhalten, sich so weit wie möglich anzupassen und den Mächtigen und Älteren so bedingungslos zu folgen". Es hat bis zum 16. Juli 2012 gedauert, als endlich über 170.000 Menschen in Tokio demonstrierten. Die schönen Fotos Neureuters dokumentieren deutlich, dass sich der Protest an Grenzen hält. "Protest auf Japanisch: In akkuraten Dreierreihen stehen die Demonstranten auf der abgesperrten Hälfte des Bürgersteigs" ist eine seiner Bildunterschriften.

Dieses Buch zeigt aber auch die erstaunliche Vielfalt des Widerstandes und der gegenseitigen Hilfe, von der wir in Europa fast nichts mitbekommen. In einer fein aufeinander abgestimmten Bild/Text-Komposition macht er das Leiden und den Widerstandswillen sichtbar. Da sind die Biolandwirte mit ihren verstrahlten Äckern, die Öko-Punks beim Aufbau von Gewächshäusern, die in abgelegenen Wohncontainern eingepferchten über Achtzigjährigen, die Mütter, die über den Gesundheitszustand ihrer Kinder in skandalöser Weise von den Behörden und Ärzten bewusst im Unklaren gehalten werden.

Fukushima-Demo in Hamm 2011, Foto: Horst BlumeMit der Darstellung der staatlichen Vertuschungen bei Strahlenmessungen und den absurd-wirkungslosen Dekontaminierungsversuchen ganzer Landstriche und dem bedrohten Leben der "WegwerfarbeiterInnen" in den Reaktoren und dem Verschwindenlassen (wahrscheinlich Ermordung) ei­nes kritischen Aktivisten beschäftigt sich das Buch ebenfalls.

Zur widerständigen Selbsthilfe gehört in der Nähe von Fuku­shima auch ein kleines unabhängiges Gesundheitszentrum zur Früherkennung von Krebsvorstufen, das zwei Euro vom Erlös jedes verkauften Buches erhält. Vorbild ist ein Projekt aus Hiroshima, wo selbst seit den 70er Jahren noch viele Nachfahren der Atombombenopfer von 1945 an Krebs erkranken.

Fukushima-Demo in Hamm 2011, Foto: Horst BlumeNicht zuletzt thematisiert Neureuther den menschenverachtenden Umgang von TEPCO und Staat mit Strahlenopfern, die 60seitige Formulare mit 156 Seiten Anhang für Entschädigungszahlungen ausfüllen und lesen müssen und diese oft doch nicht erhalten. Die Entschädigungen wurden mit zum Teil grotesken Begründungen abgelehnt: Die radioaktiven Partikel seien beim Verlassen der Atomreaktoren zu einer herrenlosen Sache geworden und wären in dem Moment der Ablagerung auf dem Boden der GrundstücksbesitzerInnen in deren Eigentum übergegangen, für deren Dekontaminierung nun die Eigentümer selbst zuständig seien! – Fukushima wird noch für manche unangenehme Überraschung gut sein. In sechs Jahren finden 240 Kilometer südlich die Olympischen Spiele statt. Neben den ergreifenden Reportagen über "das atomgespaltene Leben der Opfer" bietet das gelungene Buch eine Chronologie der Ereignisse, Glossar, Landkarten, Fakten und ausführliche Erklärungen im Anhang.

Alexander Neureuter: "Fukushima 360 Grad", 44 Foto-Reportagen, 204 großformatige farbige Seiten, Selbstverlag in Kooperation mit dem IPPNW, 29,80 Euro. Infos: www.neureuters.de

 

zurück zur Übersicht - Atomkraft und Ökologie