"Uentroper Umweltzeitung – Die Bürgerinitiativen informieren", Nr. 2, 1977

Kein Atomkraftwerk mit unserem Geld!

Stromgeldverweigerung als Protestform (mit Nachwort)

Die Bürgerbewegung gegen die Atomenergie befindet sich in einer schwierigen Lage: Auf der einen Seite wird die Zahl derjenigen, die eine Nutzung der Atomenergie ablehnen, immer größer, aber andererseits haben diese Bürger nicht die Möglichkeit, ihren Protest und ihren Widerstandswillen in einer ihnen gemäßen Weise zum Ausdruck zu bringen.

Es ist sogar zu befürchten, daß die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Bauplätze der Atomkraftwerke in Brokdorf und Grohhde eine große Zahl von Menschen davon abgehalten hat, sich auf die Seite der Atomenergiegegner zu stellen.

Wenn der Widerstand gegen die Atomenergie in Zukunft nicht nur eine Sache von jungen, risikobereiten Leuten sein soll, sondern Bürger jeden Alters und jeden Standes miteinbeziehen soll, müssen wir gewaltfreie Widerstandsformen finden, deren Anwendung jedem offensteht, der das damit verbundene, möglichst abschätzbare Risiko tragen will. Eine solche Möglichkeit, neben der es natürlich noch eine große Zahl weiterer gibt, ist der "Stromzahlungsboykott". Wie er verwirklicht werden kann, soll an dieser Stelle nur kurz geschildert werden.

"Stromzahlungsboykott" ist die Verweigerung der Zahlung eines bestimmten Teils der Stromrechnung an das beliefernde Elektrizitätswerk. Da die E-Werke mit dem Geld, das sie von den Stromverbrauchern bekommen, auch den Bau ihrer Atomkraftwerke finanzieren, bedeutet "Stromzahlungsboykott", daß man den E-Werken die bisher stillschweigend gewährte Unterstützung für ein Vorhaben entzieht, das man strikt ablehnt und das man vielleicht schon auf andere Weise bekämpft hat.

Stromzahlungsboykott-Flugi in Hamm 1977, Auflage: 4000Der erste Schritt sieht so aus, daß sich diejenigen, die sich entschlossen haben, nicht mehr zur Finanzierung von Atomkraftwerken beizutragen, andere Personen ansprechen, um eine örtliche Boykottgruppe zu bilden. Man beschließt, die Boykottaktion erst dann zu beginnen, wenn man eine Mindestanzahl von Teilnehmern gefunden hat. Die Boykottteilnehmer werden schriftlich erklären, an der Aktion teilnehmen zu wollen, wenn es noch weitere 99 (oder 999) tun wollen.

Vorsichtshalber schreiben diejenigen, die ihrem E-Werk eine Abbuchungsvollmacht für die Stromrechnung erteilt haben, dem E-Werk eine Brief, in dem sie die Abbuchungsvollmacht zurücknehmen und um die Zustellung von vorgedruckten Überweisungsträgern bitten. Die Boykottgruppen haben inzwischen ein eigenes Konto eingerichtet, auf das sie das Geld, das sie nicht mehr an das E-Werk zahlen wollen, einzahlen werden.

Dieses Geld soll, wenn das E-Werk den Forderungen der Boykotteilnehmer nachgekommen ist, dem E-Werk in voller Höhe ausgezahlt werden, damit man sich nicht der Nichtbezahlung von abgonommener Ware, dem verbrauchtem Strom, schuldig macht. Diese Person zeigt dadurch, daß sie sich nicht am E-Werk persönlich bereichern will, sondern sie verspricht die volle Auszahlung des zurückgehaltenen Geldes, das dem E-Werk nur für bestimmte Zeit nicht zugänglich ist. Wie hoch die Summe des einbehaltenen Geldes ist, muß überlegt werden. Ein Betrag von 10 % der Stromrechnung ist sicher nicht zu hoch.

Wenn sich nun genügend Boykotteilnehmer gefunden haben, wird eine Delegation zu dem betreffenden E-Werk geschickt. Diese Leute unterbreiten einem Vertreter des E-Werkes die vorher von allen Boykotteilnehmern abgesprochenen Forderungen. Wenn das E-Werk auf diese Forderungen eingeht, was allerdings unwahrscheinlich ist, wird der Stromzahlungsboykott überflüssig. Andernfalls aber beschließt eine weitere Vollversammlung aller Boykotteilnehmer, ob der Boykott begonnen werden soll oder nicht. Wenn begonnen werden soll, wird ein Termin festgesetzt, nach dem von allen Rechnungen, die das E-Werk schickt, nur noch 90 % bezahlt werden. Die restlichen 10 % kommen auf das Konto der Boykottgruppen.

Stromzahlungsboykott-Broschüre, 1977Der Arbeitsaufwand des E-Werkes wird dadurch, daß eine Zahl von Leuten ihre Rechnungen nur noch zu 90 % bezahlen, sehr viel größer, weil die Komputer solche Aktionen nicht verarbeiten können. Noch schlimmer wird es natürlich, wenn Boykotteilnehmer vielleicht ihre 90,72 DM nicht einfach überweisen, sondern bar bezahlen oder nur einen Teil überweisen und den Rest bar bezahlen oder gar die 90 % in kleinen Raten begleichen, etwa heute 1,50 DM in bar, morgen 37,85 DM überweisen, übermorgen 0,31 DM per Scheck und so weiter.

Das E-Werk wird sich überlegen, wie es dem Boykott begegnen kann. Es wird den Boykotteilnehmern erst Mahnungen und später Zahlungsbefehle schicken. Die Boykotteilnehmer werden daraufhin Widerspruch einlegen. Die Begründung wird beispielsweise lauten: Man will dem E-Werk das Geld nicht für immer, sondern nur für einen bestimmten Zeitraum vorenthalten. Die nach einiger Zeit stattfindende Verhandlung vor dem Amtsgericht wird große Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit ausschöpfen helfen. Im wahrscheinlichsten Fall werden die Boykottteilnehmer bei der Verhandlung zur Zahlung der gesamten Stromrechnung verpflichtet. Diese juristischen Vorgänge spielen sich auf zivilrechtlicher Ebene ab‚ nicht auf strafrechtlicher. Ein Stromzahlungsboykott ist nach Auskunft mehrerer Juristen keine strafbare Handlung.

Aufkleber 1977Auf Grund der Kürze dieses Artikels müssen dem Leser notwendigerweise noch zahlreiche Fragen offenstehen und einige Probleme unangesprochen bleiben. Für diejenigen, die sich mit dem Stromzahlungsboykott mehr beschäftigen wollen oder selber mitmachen wollen, ist eine Broschüre erschienen, die von Michael Schweizer (BI Welver) und Theo Hengesbach (Gewaltfreie Aktion Umweltschutz Dortmund) mit Hilfe von Freunden aus anderen Bürgerinitiativen zusammengestellt worden ist. In der Broschüre finden sich Kapitel zur Methode, zu Erfahrungen aus anderen Ländern, zu juristischen Fragen sowie eine Literaturliste und Kontaktaddressen.

Nachwort:

1977 und 1978 wurden etwa 4.000 vierseitige Flugblätter in Hamm mit einem ausführlichen Aufruf zur Stromgeldverweigerung verteilt. In Hamm haben sich nur etwas über ein Dutzend Haushalte tatsächlich beteiligt. In Dortmund, wo die Gewaltfreie Aktion Umweltschutz Dortmund diese Aktion zu ihrem Schwerpunkt machte, waren es über 100 Haushalte und die öffentliche Wirkung war dort enorm. Einen großen Anteil an dem Erfolg hatte Theo Hengesbach, der leider 2009 verstorben ist. Nachruf:

http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=286:zum-tod-von-theo-hengesbach&catid=21:lokales-aus-hamm

Broschüre von Theo Hengesbach: "Ziviler Ungehorsam und Demokratie"Die Hammer Bürgerinitiatve hatte als THTR-Standort-BI zahlreiche andere Aufgaben wahrzunehmen und konnte sich diesem Projekt nicht mit ganzer Kraft widmen. Der "Strobo" war eine sehr weitgehende Widerstandsform, der sich 1977 in Hamm noch nicht viele Menschen anschließen wollten. Außerdem stand die BI vor 36 Jahren erst am Anfang eines langen Weges. Und wie man an der etwas komplizierten Ausdrucksweise in meinem Artikel oben sehen kann, mussten wir auch selbst erst noch lernen, uns möglichst verständlich und nachvollziehbar auszudrücken.

Trotz dieses Misserfolges erhielten in Hamm zumindest viele Menschen zum ersten Mal Informationen über die verschiedenen Formen des zivilen Ungehorsams. Hiermit wurde ein Impuls gegeben, an den später viele Anti-Atom-AktivistInnen und auch die Friedensbewegung anknüpfen konnten.

Weitere Informationen zur bundesweiten Stromgeldverweigerung sind in einem sehr interessanten Artikel zu finden: "Kein AKW mit unserem Geld! Stromrechnungsboykott - 35 Jahre später" von Wolfgang Hertle: http://castor.divergences.be/spip.php?article492

Von 1977 bis 1978 erschienen insgesamt vier Ausgaben von "Uentroper Umweltzeitung – Die Bürgerinitiativen informieren". Sie wurden hauptsächlich in der ländlichen Umgebung des THTR Hamm verkauft. Herausgeber und Redakteur war Harald Haun. Heute ist er der Vorsitzende der "Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm" und betreibt mit seiner Frau den Biolandhof Damberg in Hamm-Westtünnen: http://www.bioland-hof-damberg.de/

 

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