Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 350, Sommer 2010

Vom Bismarxismus zu Biskys Marxismus

Ein Kommentar zur Wahl in NRW

"Hier kommt der Chef!" krähte der Politbarde und Politiker Diether Dehm ins Mikro und kündigte den 400 ZuhörerInnen auf dem Marktplatz den sehnsuchtsvoll erwarteten (ArbeiterInnen-)Führer Oskar Lafontaine an, damit der gütige Übervater sich ihrer Sorgen und Nöte endlich höchstpersönlich annehmen konnte.

Es ist symptomatisch, wie unreflektiert die Linkspartei im NRW-Wahlkampf den Zukurzgekom­menen und Enttäuschten ihren Oskar als Heilsbringer präsentierte. Die passive Erwartungshaltung vieler AnhängerInnen dieser Partei wurde in geradezu klassischer Weise bedient. Die Notwendigkeit von Eigeninitiative und Kreativität bei der Wahrnehmung ihrer eigenen Interessen gerät so zunehmend aus dem Blickfeld. Ablauf, Rhetorik und personelle Zusammensetzung solcher Wahlveranstaltungen erinnern stark an diejenigen der alten SPD. Inzwischen gibt es zwei sozialdemokratische Parteien mit zwei leicht unterschiedlichen Akzentsetzungen in der konkreten Politik, aber ihre Politikstile und -inhalte gleichen sich immer mehr an.

NRW-Landesparteitag der Linken in HammDer NRW-Landesverband der Linken wurde in den bürgerlichen Medien als besonders kapita­lismuskritisch und als "nicht regierungsfähig" bezeichnet. Das wird sich schnell ändern. Die ersten parlamentsfixierten Fingerübungen vollbrachte der Vorstand der Linkspartei schon in den Monaten vor der Landtagswahl, indem er immer wieder betonte, bei entsprechenden inhaltlichen Zugeständnissen zur Abwahl von Rüttgers beizutragen und sich einbinden zu lassen. Der vielbeschworene Politikwechsel findet durch das neue Wahlergebnis weniger in der NRW-Landespolitik statt, sondern in der Wandlung des Politikverständnisses der Linksparteimitglieder. Nach einer kurzen aktionistischen Phase suchen sie ihren Platz im neuen Parteiengefüge der Republik. Und dazu gehört natürlich ein richtiger Chef und nicht etwa die Zurückdrängung chefiger Ver­haltensweisen, wie wir sie als AnarchistInnen zum Ziel haben.

Erich MühsamErich Mühsam prägte vor 100 Jahren für den autoritären Politikstil der alten SPD, der viele Elemente des preußischen Obrigkeitsstaates übernahm, den Begriff Bismarxismus. Eine Kombination der autoritären Politik von Reichskanzler Bismarck und sozialer Fürsorgeverwaltung für die ArbeiterInnen. Um die revolutionären Neigungen des Proletariats zu bezähmen, führte Bis­marck Ende des 18. Jahrhunderts aus durchaus eigennützigen Gründen eben diejenigen Sozialversicherungen ein, die heute teilweise wieder zur Disposition stehen. Die SPD wurde nicht nur zum Profiteur dieser Sozialpolitik, sondern sah sogar später zu Beginn des 1. Weltkrieges in der kriegswirtschaftlichen Kooperation zwischen Ka­pital und Arbeit den "Kriegssozialismus" heraufziehen - und stimmte den Kriegskrediten 1914 zu.

Wer sich zum verlängerten Arm staatlicher Politik machen lässt, verliert schnell seine ursprünglichen Ziele aus den Augen. Bei der Linkspartei im Osten kommt ein großer Teil der Mitglieder aus historischen Gründen ohnehin aus staatsfixierten Zusammenhängen. Im Westen bestimmen zunehmend ehemalige SozialdemokratInnen alten Schlages die Politik der Linken. Eine besondere Kritikfähigkeit gegenüber staatlichen Organen und Instrumentarien ist bei ihnen nicht zu erwarten. Einige von ihnen versuchen sich schon als Retter des "Allgemeinwohls" zu profilieren, indem sie eine stärkere staatliche "Kontrolle" der Banken und des Finanzsystems fordern, anstatt die günstige Gelegenheit zu einer grundlegenden Kritik zu nutzen. Inzwischen wird - vielleicht mit Ausnahme der FDP - von allen Parteien die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte gesehen. Vorrangig, damit der Kapitalismus schön weiter funktionieren kann.

Während die NRW-Grünen bei der Landtagswahl mit ihren 12,1 Prozent auch wahlstimmenanteilig ganz in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft angekommen sind, hat die Linke mit 5,6 Prozent und einem Verlust von 356.000 Stimmen (!) gegenüber der Bundestagswahl 2009 gerade eben den Einzug ins NRW-Parlament geschafft. Das ist viel angesichts der gegen sie medienwirksam geschürten Vorurteile. Es ist sehr wenig, wenn man bedenkt, wie viele ALG II-BezieherInnen, Prekarisierte und arme Menschen es in NRW gibt, die die Linke vertreten will. Der Organisierungs­grad all dieser Menschen - ganz undogmatisch in allen nur möglichen Ausdrucksformen - ist katastrophal niedrig. Das ist das entscheidende Problem, an dem in Zukunft gearbeitet werden muss, um dem Sozialraub etwas entgegensetzen zu können.

Knapp die Hälfte der Wahlberechtigten in NRW hatte entweder nicht gewählt oder ihre Stimme Kleinparteien unter fünf Prozent gegeben. Unter diesem Gesichtspunkt ist selbst eine große Koalition die Regierung einer Minderheit. Wenn die SPD in ihrem Stammland noch einmal 2,6 Prozent gegenüber dem blamablen Absturz von 2005 verliert und ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1946 einfährt, so verkam das anmaßende erste Tri­umphgeschrei in dieser Volksparteiruine zur irrwitzigen Showeinlage.

Aber wie realistisch waren denn die Träume von Rot-Grün-Rot, bis sie nach zwölf Tagen in einem abgekarteten Spiel zum Platzen gebracht wurden? Die NRW-SPD gehört zum konservativsten und reaktionärsten Teil der Standortchauvinistischen Partei Deutschlands. Hier wurden während der rotgrünen Koalition von 1995 bis 2005 parteiintern geradezu Wettbewerbe ausgetragen, wer LandesmeisterIn im Grünen- und Ökologinnenquälen werden würde. Hannelore Kraft war ein politisches Ziehkind von Wolfgang Clement, der vor einigen Jahren die SPD verlassen hatte, weil sie ihm als zu "links" erschien. Von einem links­refor­mistischen Anspruch Ypsilantis, die eine rot-grün-rote Koalition ernsthaft versucht hatte, ist sie meilenweit entfernt.

Die aktuelle komplizierte wahlarithmetische Par­teienkonstellation zwingt der neuen Landesregierung vielleicht einige ganz wenige sozial oder ökologisch orientierte Rücksichten auf. Von den Bewegungen muss also Vieles von unten erkämpft, kann aber auch Einiges an Einflussmög­lichkeiten durch mangelnde Aktivitäten verloren werden.

Aber mal ehrlich: Ist das im Grunde nicht immer so?

 

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