Schwarzer Faden, Nr. 8, 3/1982

Arme Schweine

"Einer für alle - alle für einen." Nicht nur bei Gewerkschaften ist dieser Wahlspruch seit dem Fall Neue Heimat fragwürdig geworden. "Westfleisch", der genossenschaftliche Super-Schlachthof vor den Toren Hamms fördert nach Ansicht seiner Kritiker Agrarfabriken und überschwemmt den Markt mit industriell produzierter Massenware - zum Nachteil von Bauern und Verbrauchern.

Doch inzwischen regt sich unter den Bauern Widerstand. Der agrarpolitische Arbeitskreis der Westf. Lipp. Landjugend (WLL) veranstaltete eine vielbeachtete Podiumsdiskussion zu diesem Problem und denkt über Alternativen nach. Lassen wir zunächst die Etappen, in denen es zu dem Konflikt gekommen ist, chronologisch ablaufen.

1. Lebendvermarktung - Überschaubarkeit

"Von den gesamten gewerblichen Schlachtungen an Schweinen wurden 1954/55 41,2 % auf Groß- und Schlachtviehmärkten lebend aufgetrieben, 1975/76 waren es nur noch 8,9 %" (1) Zahlreiche in Verbrauchernähe stattfindende dezentrale Lebendviehmärkte spiegelten vor ca. 20 Jahren für Jedermann einsehbar und unverfälscht das Marktgeschehen wider: Angebot und Nachfrage regelten den Preis. Sogenannte "Agenten" bekamen von den Bauern den Auftrag, das Vieh zum höchstmöglichsten Preis an die dortigen Metzger zu verkaufen. Das Mittel der Preise bildete die amtliche Notierung, nach der man sich auch außerhalb der wöchentlichen Auftriebe richten konnte. Die Metzger schlachteten die gekauften Schweine in kommunalen Schlachthöfen, die in jeder Stadt vorhanden waren. Der Vorteil der Lebendvermarktung liegt darin, daß - im Gegensatz zur Totvermarktung - der Bauer die volle Kontrolle über seine Produkte behält, indem er bei der Preisfindung für seine Tiere an Ort und Stelle mitreden kann. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist heute längst nicht mehr der Fall.

2.    Durch Anpassung zum zweifelhaften Erfolg

Vor folgendem Hintergrund kam es zur Änderung der Konzeption der genossenschaftlichen Vieh- und Fleischvermarktung: "ln marktfernen Gebieten, vor allem in Schleswig-Holstein, entstanden leistungsstarke Versandschlachthöfe. Sie waren in der Lage, auf Abruf die Großformen des Lebensmittelhandels (Supermarktketten und Wurstfabriken, d. Verf.) an Rhein und Ruhr rasch und ausreichend mit großen Fleíschpartien einheitlicher Qualität zu beliefern. Mit der Entwicklung der Transport- und Kühltechnik konnte schon über geringe Entfernungen hinweg Fleisch kostengünstiger als lebende Tiere befördert werden. Die Hansalinie wurde zu einer "Fleischschiene" mit Einbahnverkehr in Richtung Süden. In Westfalen-Lippe fand demgegenüber in den sechziger Jahren Schlachtvieh über unzählige Kanäle seinen Absatz. Sie waren für die wachsende Produktion zu eng geworden. (...) Die genossenschaftliche Vermarktung war durch eine Vielzahl von Ortsgenossenschaften gekennzeichnet, (...). Das zersplitterte Angebot und die geringen Kapitalbildungsmöglichkeiten der genossenschaftlichen Vermarktung machten neue Initiativen erforderlich." (2)

Die Ziele für eine moderne Vieh- und Fleischvermarktung sahen folglich für den Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverband (WLV) so aus:

1) die Kosten für die Erfassung und den Absatz möglichst niedrig zu halten,
2) die Bereitstellung großer Partien einheitlicher Qualität zu gewährleisten, und
3) die Marktposition des genossenschaftlichen Vieh- und Fleischangebots zu stärken." (3)

3.    Konsequenz: Zentralisierung

Durch den sich anbahnenden Strukturwandel mußten immer mehr städtische und kleine private Schlachthöfe aufgeben. Dafür entstanden - vielfach von Steuergeldern subventionierte - Versandschlachthöfe in den Zentren der Schweinemast. So geschah es auch in Westfalen: Ursprünglich existierte hier die Vieh- und Fleischzentrale Westfalen eGmbH (VFZ), die als genosenschaftliche Vermarktungsorganisation zusammen mit ihrer Tochter "Provianda" über das geschützte Warenzeichen "Westfleisch" verfügt. Die insgesamt 84 örtlichen Genossenschafften waren zwar alle Mitglieder der VFZ, konnten aber gleichzeitig Konkunenten der Zentrale sein, weil nur ein bestimmter Teil des Fleisches über die VFZ abgesetzt, der andere Teil aber in der betreffenden Region selbst vermarktet wurde.

ln den örtlichen Genosenschaften waren die einzelnen Bauern Mitglied. Ursprünglich als Selbsthilfeeinrichtungen gegründet, genießt diese Unternehmensform noch hohes Ansehen, obwohl durch die abgehobenen Vorstandsentscheidungen die Bauern in der Regel keine wirkliche Entscheidungsgewalt mehr haben.

Mit dem Bau der großen Versandschlachthöfe in Paderborn, Lübbecke und Coesfeld hob Westfleisch die relative Eigenständigkeit der örtlichen Erzeugungsgemeinschaften und Genossenschaften auf und vollzog somit einen tiefgreifenden Strukturwandel. Da durch diese Maßnahmen angeblich die Vermarktungsstruktur "nachhaltig verbessert" wurde, konnten öffentliche Beihilfen zum Bau der Großschlachthöfe kassiert werden.

1980 wurde sogar noch der 4. Großschlachthof in Hamm-Uentrop für ca. 50 Mill. DM gebaut. Interessant ist dabei, daß eine Genossenschaft, die ja keine Gewinne machen darf und zum Wohle ihrer Mitglieder wirken sollte, immerhin einen Großteil der 50 Mill. DM für den Großschlachthof ihren Mitgliedern bei den Viehrechnungen abgezogen haben muß!

4. Die Folgen

- Westfleisch hat ganz Westfalen flächendeckend mit Großschlachthöfen bestückt und verfügt mit über 30% der Schlachtungen in diesem Gebiet über eine große Marktmacht.
- Die anliefernden Bauern stehen dieser Marktmacht vereinzelt gegenüber und büßen an Mitspracherecht bei der Preisfindung ein.
- Die kleineren kommunalen Schlachthöfe müssen aufgeben, weil sie mit Großschlachthöfen nicht konkurrieren können.
-    Ohne kommunale Schlachthöfe können die Metzger nicht mehr selber schlachten und müssen bei Westfleisch und anderen Großunternehmen gekühlte Schweinehälften beziehen. Sie benötigen aber zur Herstellung ihrer Wurstspezialitäten die Warmverarbeitung nach dem Schlachten.

Da diese durch die Versandschweine unmöglich gemacht wird, produzieren die Metzger eine Einheitswurst wie die Handelsketten auch und müssen zudem einen höheren Preis als diese verlangen, weil sie nicht so gut durchrationalisiert« sind.

- Die großen Versandschlachthöfe werden dort gebaut, wo zahlreiche industrielle Mäster anzutreffen sind. Aus Gebieten mit einer kleinbäuerlichen Struktur zieht sich die Westfleisch entgegen dem genossenschaftlichen Auftrag zurück.

5. Begünstigung von Agrarfabriken und Großbetrieben

Gerade kleine und mittlere Bauernhöfe sind durch die derzeitig praktizierte Agrarpolitik besonders gefährdet. 1970 gab es noch 1,083 Mill. Betriebe, 1980 waren es nur noch 0,797 Mill. (4) Gleichzeitig vergrößerten sich die Einkommensunterschiede enorm. Der Agrarbericht 81 unterteilt die Vollerwerbsbetriebe in 4 Gruppen und stellt das Einkommen des oberen und des unteren Viertels gegenüber. Selbst bei diesem statistisch geglätteten Bericht kommt heraus, daß das untere Viertel mit nur 7.568 DM pro Jahr und Familienarbeitskraft an der Sozialhilfegrenze steht, während das obere Viertel mit 57.873 DM das 7,6fache verdient.

6. Unterschiedliche Preise für gleiche Schweine

In einer Situation, in der 60 % der Einnahmen in der Landwirtschaft aus der Schlachtvieherzeugung kommen, ist es ein Skandal, daß industrielle Großmäster durch Sondervereinbarungen höhere Preise als die anderen Bauern bekommen.

Und das geschieht folgendermaßen: Da der Schlachthof in Hamm-Uentrop nun einmal so groß geworden ist (11.000 Schweine werden in der Woche geschlachtet), hat er Auslastungsprobleme und' ist dringend auf der Suche nach zusätzlichen Schweinen. Gefragt sind hierbei nicht einige Wenige von ein paar kleinen Bauern. - Nein, große Mengen gleichbleibender Qualität (?) sind gefragt. Und die bekommt man eben von den Großmästern aus Holland oder Westfalen. Dabei haben diese schon genügend Trümpfe in der Hand: einen durchrationalisierten Betrieb, hohe Lagerkapazitäten, um Futtèr günstig zu kaufen, usw...

Der agrarpolitische Arbeitskreis der Landjugend Unna/Soest stellt dazu treffend fest: "Entscheidend ist, daß ein genossenschaftliches Unternehmen, das mit Bauerngeld aufgebaut wurde, heute Schweine aus Bereichen teuer einkauft, die die bäuerliche Schweinehaltung in der BRD ruinieren." (5) Die besseren Preise für die Großmäster können nur deshalb bezahlt werden, weil Westfleisch bei den mittleren und kleineren Betrieben die Schweine schlechter bezahlt. Die schlechtesten Preise gehen aufgrund der Marktmacht von Westfleisch in die Wochennotierungen (= durchschnittliche Preise) ein und drücken die Erlöse der Schweineerzeuger.

7. Schweinerei im Schlachthof

Wenn der Westfleisch-Fahrer mit seinem LKW die Schweine beim Bauern abholt, ist der Preis zu diesem Zeitpunkt ungewiß. Erst nach dem Schlachten werden die Schweine in verschiedene Handelsklassen eingestuft. Diese Klassifizierung ist dann die Grundlage für den Preis, der später mitgeteilt wird.

An dem Ablauf zeigt sich erneut recht deutlich, wie sehr der Bauer an Eínflußmöglichkeiten auf die Vermarktung seiner Produkte verloren hat: Er verkauft und erfährt erst später, was er dafür bekommt.

Die Einteilung in die Handelsklasse muß bei den riesigen Mengen schnell durchgeführt werden und ist zu einem Teil der subjektiven Bewertung des Klassifízierers unterworfen. Er ist Angesteller des Unternehmens und es ist klar, daß er in Zweifelsfällen das Fleisch eine Klasse tiefer einstuft und den Bauern so das Geld wegnimmt. 1979 wurden bei den Kontrollen des zuständigen Landesamtes 31 % und 1981 noch 13 % der Klassifizierungsergebnisse beanstandet, wobei die Dunkelziffer nicht berücksichtigt ist. Durch Manipulationen gehen nach Berechnungen der Landwirtschaftskammer den Bauern 30 Mill. DM verloren. Die 8 Kontrolleure für ganz NRW nützen da auch nicht viel: 2 Wochen wird dann in einem Schlachthof kontrolliert, in den anderen 50 Wochen kann manipuliert werden.

8.    Vertrauen ist gut, Kontrolle besser

Um diesem Mangel abzuhelfen, haben sich einige Bauern in besonderen Kursen als Kontroll-Klassifizierer ausbilden lassen. Doch Westfleisch läßt ihre eigenen Mitglieder nicht als Kontrolleure in ihre Schlachthöfe. Begründung: Eine Genossenschaft kann und braucht nicht manipulieren und deswegen seien bäuerliche Kontrollen überflüssig. Die private Firma "Barfuß" erklärte sich dafür 1980 bereit, bäuerliche Kontrollen zuzulassen. Es wurde zwischen der Viehverwertungsgenossenschaft Lippborg und "Barfuß" ein Vertrag geschlossen. Danach hat jeder liefernde Bauer das Recht, den Schlachthof zu betreten und kann die Verwiegung und Klassifizierung seiner Schlachttiere verfolgen. Obwohl eine umfassende Kontrolle immer noch nicht gegeben ist, werden die Betrügereien dadurch schwieriger.

9.    Westfleisch drückt sich vor der Diskussion

lm Herbst letzten Jahres hat sich der agrarpolitische Arbeitskreis Unna-Soest der Westf. Lipp. .Landjugend bemüht, alle Beteiligten für eine Podiumsdiskussion an einen Tisch zu bekommen: Westflesich, Barfuß, Westf, Lipp. Landwirtschaftsverband (WLV), Landwirtschaftskammer und Landjugend. Die Verhandlungen mit Westfleisch und dem WLV um die Teilnahme zogen sich in die Länge. Schließlich sagten beide Gruppen mit der Begründung ab, eine neutrale Diskussionsleitung sei nicht gewährleistet. Diese an den Haaren herbeigezogene Begründung laßt vermuten, daß die Verantwortlichen Angst vor den bohrenden Fragen der Bauern habe.

Da die Landjugend die Entwicklung nicht tatenlos abwarten wollte,führte sie am 26. April eine Podiumsdiskussion unter dem Thema "Wem nützen die großen Schlachthofe?" durch. Teilnehmer waren Romberg (Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Kreisverbandes Unna und CDU-Ratsherr im Rat der Stadt Hamm), Barfuß Nersandschlachter), Leifert (Landjugend). Zu dieser Veranstaltung kamen 150 Bauern und es zeigte sich, daß auch ohne Unterstützung von Westfleisch und vom Bauernverband Arbeit und Argumente der Landjugend anerkannt wurden. Podiumsdiskutant Romberg lobte die faire Diskussionsleitung des Landjugendlichen Wedell. Die Bauernversammlung forderte mit großer Mehrheit Westfleisch auf, sich das nächste Mal im Herbst der öffentlichen Diskussion zu stellen.

10.    Selbstvermarktung - eine Alternative?

Eine Möglichkeit, sich von den Großschlachthöfen unabhängig zu machen, bietet die Selbstvermarktung von Fleisch. Da viele Haushalte Kühltruhen besitzen, könnten sich Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften bilden, die mit den ortsansässigen Metzgern zusammenarbeiten. Ein Vorteil dieser Vermarktungsweise ist, daß die Bauern einen gerechten Preis bekommen und deswegen in der Lage sein werden, gesundes Fleisch zu liefern. Die Verbreitung der Selbstvermarktung hängt jedoch in einem starken Maß von der Kooperationsbereitschaft der Erzeuger und Verbraucher ab. - Beide sind gefordert!

Anmerkungen:

1) Wöhlken, Einfuhrung in die landwirtschaftliche Marktlehre
2) Landwirtschaftliches Wochenblatt, 11.2. 1982
3) Bauernblatt Nr.25
4) Agrarbericht 81
5) Bauernblatt Nr. 25

Nachwort 2011:

Dieser Artikel erschien ebenfalls in "Der Grüne Hammer" (Hammer Stadtzeitung für Ökologie) Nr. 22, Juni-Juli 1982. Im Nachhinnein fällt natürlich auf, das so wichtige Aspekte wie das Leiden der Tiere und die Folgen des exessiven Fleischkonsums von mir damals nicht berücksichtigt wurden. - Heute steht 100 Meter neben dem Haupteingang von "Westfleisch" das Priesterhaus des größten südindischen Hindutempels in Europa, Sri Kamadchi Ampal. Er wird jährlich von zehntausenden von streng vegetarisch lebenden Hindus besucht.

Zwei arme Schweine aus LaosDieses Foto von zwei armen Schweinen aus Laos hat Werner Neubauer, Administrator dieser Homepage, gemacht.

 

 

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