Aus: "FUgE-News" Nr. 1, Juli 2018

Indien: Fußmarsch gegen Landraub bis nach Europa!

Indien beflügelt oft exotische Touristenphantasien und wird gerne als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet. Hierbei wird ausgeblendet, dass über 800 Millionen Menschen dort als arm gelten und ein Drittel der 1,3 Milliarden Einwohner chronisch unterernährt ist. Der aggressive Hindunationalismus hat durch Ministerpräsident Modi die Regierungsmacht übernommen und Rassismus, ethnischer Chauvinismus, Kastenterror und Drangsalierung von muslimischen und christlichen Minderheiten bestimmen vielfach den Alltag. Zwei Millionen Frauen und Mädchen werden pro Jahr ermordet.

Protestkundgebung in Delhi 2016Etwa 92 Prozent der Bevölkerung arbeitet ohne Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung, während sich die Mehrheit der kleinen korrupten Ober- und Mittelschicht auf Kosten dieser Armen schamlos bereichert. Nationale und internationale Konzerne eignen sich mit staatlicher Hilfe große Ländereien an, um Industrieprojekte zu errichten oder Bodenschätze abzubauen.

Etwa 70 Prozent der indischen Bevölkerung lebt auch heute noch in ländlichen Gebieten oft mit gemeinschaftlicher Land- und Waldbewirtschaftung und hat teilweise keine Besitzurkunden für ihr Land. Mit den seit 20 Jahren verstärkt stattfindenden Enteignungen werden die Lebensgrundlagen von mehreren hundert Millionen Menschen zerstört. Brutal geführte Verteilungs- und Verdrängungskämpfe um Land und Nahrungsmittel sind in jedem Winkel Indiens die Folge. Zweihundert Millionen Adivasis ("Ureinwohner") und Dalits ("Unberührbare") sind die Hauptleittragenden dieser Entwicklung. Aufgrund des rigiden Kastensystems stehen sie auf der untersten Stufe der hierachisch zerklüfteten Gesellschaft.

Reiche, Großgrundbesitzer, Konzerne und Forstbehörden eignen sich ungestraft Adivasi-Land an und zerstören jahrhundertealte gut funktionierende Öko- und Sozialsysteme. Es werden beispielsweise Tigerreservate für Touristenbesuche ausgewiesen und die dort lebenden Adivasis vertrieben und manchmal sogar getötet. Den Vertriebenen bleibt nichts anderes übrig, als in völlig unwirtliche Gegenden zu fliehen, wo kaum Landwirtschaft möglich ist. Viele Millionen vegetieren unter unwürdigen Verhältnissen auf den Bürgersteigen und in den Slums der Großstädte. Eine ökologisch angepasste und nachhaltig wirtschaftende Kultur- und Lebensweise wird systematisch zerstört.

Kundgebung von Ekta Parishad 2012, Foto: Herbert SauerweinWiderstand

Um den Widerstand gegen den Landraub zu organisieren und um in den Dörfern die gegenseitige Hilfe bei dem Überlebenskampf zu koordinieren haben sich vor 28 Jahren in sechzehn indischen Bundesstaaten mehrere basisdemokratische Organisationen zusammengeschlossen. Mit der Bewegung Ekta Parishad ("Solidarischer Bund") bündeln die Initiativen ihre Kräfte, treten massenhaft durch lange Fußmärsche in Erscheinung und üben Druck auf Bundes- und Landesregierungen aus. Zum ersten Mal nach dem Tode von Mahatma Gandhi hat sich in Indien eine gewaltfreie Massenbewegung entwickelt und gefestigt. Durch ihr "Markenzeichen" Fußmarsch knüpft Ekta Parishad an den berühmten Salzmarsch von Gandhi im Jahre 1930 an, an dessem Endpunkt er in einem Akt des Zivilen Ungehorsams am Meer illegal Salz gewann.

Seit 1990 fanden fanden zahlreiche regionale Fußmärsche von Dorf zu Dorf bis in die großen Städte statt. Im Jahr 2007 marschierten 25.000 Menschen 400 km bei sengender Hitze nach Delhi. 2012 waren es schon Einhunderttausend! Nicht nur die Durchführung dieser Märsche war eine Meisterleistung in Selbstorganisation, sondern auch die Vorbereitung hierfür: Die armen Familien legten jahrelang jeden Tag eine Rupie pro Tag zurück, um den teuren Anfahrtsweg per Bahn für ein Familienmitglied zu finanzieren. Und jeden Tag eine Hand voll Reis, damit die Daheimgebliebenen nicht verhungerten. Die Kraft der Armen, die wochenlange, entbehrungsreiche Märsche mit nur einer Mahlzeit am Tag und Übernachtungen unter freiem Himmel beispielsweise direkt neben einer vielbefahrenen Autobahn auf sich nehmen können, ist die Grundlage für den Erfolg.

Ziel ist es, die Bundesregierung Indiens durch abgestufte Protestschritte und zähe Verhandlungen dazu zu bringen, den legalisierten Landraub zu stoppen und die Gesetze zugunsten der legitimen Rechte der Adivasis und Dalits zu ändern und vor allen Dingen für die Umsetzung in den Bundesstaaten und Kommunen zu sorgen. Bisher konnten zwar Teilerfolge erzielt werden, aber als der Hindunationalist Modi 2014 Ministerpräsident wurde, wurden selbst die alten noch unzulänglichen Vereinbarungen nicht mehr eingehalten.

Fußmarsch von Ekta Parishad 2012, Foto: Herbert SauerweinZu Fuss von Delhi nach Genf!

Als ich vor einigen Jahren den charismatischen Sprecher von Ekta Parishad, Rajagopal P. V., in Köln interviewte, war die dreijährige weltweite Kampagne "Jai Jagat 2020" (Sieg der Welt) schon langfristig angedacht und er betonte, dass jetzt auch auf allen Kontinenten der Kampf für Landrechte, Gerechtigkeit und eine nachhaltige Wirtschaftsweise mit vielen neuen Bündnispartnern zusammengeführt werden soll. Inzwischen ist ein weltweites Netzwerk entstanden, dass durch zahlreiche Veranstaltungen die kommenden Aktionen vorbereitet.

Am 2. Oktober 2018, dem Geburtstag von Mahatma Gandhi, wird ein Marsch von 150.000 Menschen von Palwal nach Delhi stattfinden und zeitgleich an 200 Orten Satyagraha (gewaltfreier Widerstand) in Indien praktiziert. Ein Jahr später, am 2. Oktober 2019 beginnt der über 10.000 Kilometer lange und durch 17 Länder führende zwölfmonatige Fußmarsch von Delhi nach Genf zum Sitz der UNO, wo unter Einbeziehung der unterstützenden Organisationen aus aller Welt die formulierten Forderungen übergeben werden. Die Vertreter der UNO haben signalisiert, dass sie bei diesem Großevent im Jahr 2020 wohlwollend kooperieren werden. In Genf besteht seit vielen Jahren eine aktive Unterstützergruppe der indischen Landlosenbewegung und bereitet Kundgebungen und Veranstaltungen mit vor. Es wäre gut, wenn die Kampagne „Jai Jagat“ auch in der BRD unterstützt würde.

In einigen Monaten möchte ich den bewegenden Kinofilm über den Marsch im Jahre 2012 "Millions Can Walk" in Hamm zeigen. In den letzten drei Jahren habe ich auf meiner Homepage 35 Artikel über die vielfältigen Aktivitäten der indischen Landlosenbewegung geschrieben:

http://www.machtvonunten.de/ekta-parishad.html

http://www.machtvonunten.de/indien-suedasien.html?view=article&id=372:die-landrechtbewegung-in-indien-unter-modi&catid=18:indien-suedasien

Auf Englisch sind die neuesten Informationen ebenfalls einsehbar:

https://www.jaijagat2020.org/

 

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