Aus: "Graswurzelrevolution" Nr. 396, Februar 2015

Provinzielle Arbeiter gegen Parvenue-Kapitalist!

Vor 40 Jahren fand in Erwitte der längste Firmenstreik in der Geschichte der BRD statt

Streiks sind etwas Ungewöhnliches in Deutschland. Sie sorgen besonders dann für Aufregung, wenn viele Menschen von den Auswirkungen betroffen sind. Zum Beispiel bei dem Streik der LokführerInnen im November 2014. Oder aber, wenn er in der Provinz unter besonderen Bedingungen stattfand und mit 449 Tagen der längste Firmenstreik in der Geschichte der BRD war.

Die Kleinstadt Erwitte in der westfälischen Provinz erlebte 1975 mit Verspätung ihr ganz eigenes 1968. Es ging um die Entlassungen in dem Zementwerk "Seibel und Söhne", die eine ganze Region in helle Aufregung versetzten.

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 1975Selbst im 50 Kilometer entfernten Hamm gehörte es zum guten Ton, dass viele linke PolitaktivistInnen ein Mini-Zementsäckchen zum Solipreis erstanden und es zu Hause demonstrativ neben den Postern an die Wand befestigten. Ich war auch einer von ihnen und ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welch dramatische Folgen der "zweite westfälische Zementkrieg" (1), wie er später oft genannt wurde, für die beteiligten Streikenden haben würde.

Broschüre "Fabrikbesetzung" bei Seibel in Erwitte 1975Im Raum Erwitte befinden sich zahlreiche mittelständische Zementwerke, die in den 70er Jahren in scharfer Konkurrenz zueinander standen. Wegen der Monostruktur waren viele Menschen von den Zementwerken abhängig. Die Preise für Zement sanken im Jahr 1975 und die Arbeitgeber versuchten, durch Entlassungen und Fusionen weiterhin hohe Gewinne zu machen. Seibel und Söhne beschäftigten 1975 ca. 150 Arbeiter.

 

Obwohl Ende 1974 das Unternehmen noch versicherte, dass der Betrieb wirtschaftlich vollkommen gesund sei, kündigte Seibel am 14. Februar 1975 an, aus wirtschaftlichen Gründen 50 Arbeiter zu entlassen. Ein paar Tage später wurden daraus schon Einhundert. Unter ihnen befanden sich auch Betriebsratsmitglieder und Schwerbehinderte mit besonderem Kündigungsschutz sowie Menschen, die seit 20, 30 Jahren hier gearbeitet hatten. Der Betriebsrat widersprach den Kündigungen. Die Belegschaft trat in einen zweistündigen Warnstreik und es kam zu einer öffentlichen Protestkundgebung mit 2.000 Menschen. Offensichtlich wollte Seibel die Belegschaft radikal verschlanken, um mit seinem stillen Teilhaber Miebach zu fusionieren.

 

 

 

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 1975Eine Fabrikbesetzung in der Provinz!

Nachdem Seibel sich geweigert hatte, über die Rücknahme der Kündigungen auch nur zu diskutieren, besetzte die Frühschicht am 10. März 1975 spontan das Werk und begann mit dem Streik.

Die Linken, insbesondere die AnhängerInnen der Selbstverwaltung, begrüßten begeistert die Werksbesetzung in dieser äußerst konservativen Provinz. In dem gleichen Zeitraum fanden im süddeutschen Wyhl Platzbesetzungen gegen ein geplantes Atomkraftwerk statt. Dies nährte die Hoffnung bei vielen undogmatischen Linken, dass nun endlich auch in ländlichen Gegenden die Menschen aufwachen und Widerstand gegen kapitalistische Zumutungen leisten würden. Das alles korrespondierte mit revolutionären Erwartungen, die in neu entstandene regionalistische Bestrebungen in Elsass und Baden, Okzitanien und Baskenland gesetzt wurden.

Die westfälische Realität sah jedoch etwas anders aus. Seibel filmte am 10. März 1975 eigenhändig aus seinem chauffeurgelenkten Mercedes die Werksbesetzung und feuerte auch den Rest der Belegschaft fristlos. Dass er von heute auf morgen die gesamte Belegschaft ohne Betriebsratanhörung, Sozialplan und Altersabbau entließ, war einer der Hauptgründe für die Empörung in der Region. Als wenige Tage später Seibel per einstweiliger Verfügung das Werk durch die Polizei räumen lassen wollte, stellte sich die Kreispolizeibehörde auf die Seite der Belegschaft, da diese lediglich friedlich und gut organisiert ihre Interessen wahrnahm. Im April scheiterten drei Schlichtungs- und Gütetermine beim NRW-Landesschlichter bzw. beim Arbeitsgericht Paderborn an der unnachgiebigen Haltung Seibels.

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 1975Fabrikbesitzer auf dem Ego-Trip

Der rücksichtslose "Frühkapitalist" wurde in der Region immer unbeliebter. Die Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung für die Streikenden war überwältigend. Täglich trafen neue Sach- und Geldspenden ein. Die Berichte über die vergoldeten Wasserhähne in Seibels Villa in Lippstadt, die Bronzetoiletten in seinem Bungalow an der Möhnetalsperre und seinen kanadischen Landsitz, von dem er aus großer Entfernung seine Geschäftsführer zu provozierenden Aktionen gegen die Zementarbeiter anstachelte, waren Gesprächsthema Nummer eins und verletzten den Gerechtigkeitssinn vieler Menschen.

Selbst der Arbeitgeberverband, in dem Seibel nicht Mitglied war, verurteilte ihn scharf und befürchtete ein Übergreifen der Turbulenzen auf andere Zementwerke. Der parvenuhafte (2), 38jährige Schnösel hatte am Ende alle seine potentiellen Verbündeten gegen sich aufgebracht: Den Pfarrer und den Schützenverein, die konservative Lokalpresse und selbst den CDU-Bürgermeister von Erwitte.

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 1975Die Rolle der Gewerkschaft

Die Zementwerker waren fast zu hundert Prozent gewerkschaftlich organisiert. Und zwar zum größten Teil in der "IG Chemie, Papier, Keramik" (IG CPK). Jahrzehnte später wurde diese konservative Gewerkschaft in IGBCE umbenannt und gehörte zu den BefürworterInnen der Hartz IV-Gesetzgebung.

Doch 1975 haben die örtlichen Gremien der IG CPK den spontanen Streik und die "illegale" Besetzung nachträglich anerkannt und nach Kräften unterstützt. Die Belegschaft erhielt von der Gewerkschaft angesichts der besonderen Bedingungen kein Streikgeld, sondern eine "Gemaßregeltenzulage". Den lokalen Funktionären gelang es zeitweilig sogar, den bundesweit zuständigen Hauptvorstand der IG CPK zu einer möglichst weitgehenden Unterstützung von Streik und Besetzung zu bewegen. Doch die Gewerkschaftsspitze war bemüht, die Wogen zu glätten und den Konflikt als lokale Besonderheit in den Medien auf kleiner Flamme zu kochen.

Die überregionalen Medien waren jedoch eindeutig auf Seiten der Zementarbeiter, während Seibel durch sein Verhalten geradezu die Karikatur eines "verrückten, rücksichtslosen" Kapitalisten darstellte. Mit der regelmäßig erscheinenden Zeitung "Streikstimme" informierten die Arbeiter die Bevölkerung über die aktuelle Entwicklung und stellten ihr Anliegen authentisch dar. Am 30. April 1975 erkärte das Arbeitsgericht Paderborn die Kündigungen für unwirksam. Ein erster Etappensieg wurde damit anscheinend erreicht.

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 197512.000 DemonstrantInnen am 1. Mai!

Höhepunkt der Mobilisierung war die Solidaritätskundgebung mit 12.000 Menschen am 1. Mai in Erwitte (3). Eine Delegation des ebenfalls besetzten und schließlich selbstverwalteten französischen Uhrenwerks LIP war gekommen und zeigte, was alles möglich wäre. Doch die Uhren in Westfalen tickten etwas anders: Für Armbanduhren ließen sich noch relativ einfach alternative Vertriebs- und Absatzwege finden – aber für viele hundert Tonnen Zement?

Für betretene Gesichter sorgten bei den konservativen Einheimischen die vielen roten Fahnen der KommunistInnen auf der Kundgebung (4). Seit Wochen gaben sich Dutzende von angereisten linken Splittergruppen die Klinke in die Hand und versorgten die erstaunten Streikenden in ihren mitgebrachten Blättchen und Zeitungen mit endgültigen Lehren und Erkenntnissen, die angeblich aus diesem Streik zu ziehen seien. Und mit Handlungsanweisungen, welche Kampfschritte als Nächstes zu erfolgen hätten (5). Im "Ruhrpott" wär solch ein Verhalten halb so wild gewesen, aber in Erwitte wirkte es sich sehr negativ aus. - Geradezu angenehm fiel im Gegensatz zu diesen Tendenzen die libertäre StudentenInnenzeitung "Politikon" aus Göttingen auf, die mehrere Zementarbeiter auf ganzen sechs Seiten einfach mal selbst sprechen lies und nur ab und zu ein paar Fragen stellte (6).

Aus der Broschüre "Betriebsbesetzung", 1975Am 2. Mai 1975 wurde das besetzte Zementwerk nach fast zwei Monaten diszipliniert geräumt und im Gebäude der Arbeiterwohlfahrt in Erwitte das Streiklokal eingerichtet.

Auf dem Solidaritätskonto der Streikenden gingen 140.000 DM ein; etliche Monate später sollten es insgesamt 400.000 DM werden. Selbst die mit Seibel zerstrittenen Verwandten – ebenfalls Besitzer anderer Zementwerke – zahlten 15.000 DM ein. Und spendeten – das erfahre ich erst jetzt im Nachhinein – auch noch den Zement für das Soli-Zementsäckchen an meiner Posterwand!

In den Fängen der Justiz

Es folgten mehrere Arbeitsgerichtsprozesse in Lippstadt und Soest, in deren Folge die EinwohnerInnen dieser Kleinstädte zum ersten Mal mit größeren ArbeiterInnendemonstrationen bekannt gemacht wurden. Doch zunehmend prägten komplizierte arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen diesen Konflikt. Für die Belegschaft eröffneten sich kaum noch eigene Handlungsperspektiven. Ein Teil von ihnen wurde zudem von Seibel per Verfügung ausgesperrt. Der Gegner befand sich oft in Kanada auf seinem Landsitz, blieb unsichtbar und lies sich weder von den Demonstrationen noch durch die Negativ-Presse beeindrucken.

Während ab dieser Zeit das Interesse der Linken an diesem Konflikt deutlich zurückging, stieg der Zementpreis um ca. 30 Prozent und damit zeigte auch die Fieberkurve des Kapitals nach oben. Seibel war jetzt bestrebt, die Hochöfen schnell wieder anzufahren und stellte neue Arbeitskräfte ein und lockte 45 seiner ehemaligen Arbeiter mit Prämien wieder zurück in seine Firma! Ab Oktober 1976 wurde wieder Zement produziert.

 

Aus der Broschüre "Fabrikbesetzung", 1975Gleichzeitig intensivierte Seibel seinen juristischen Feldzug gegen diejenigen, die sich durch aufmüpfiges Verhalten erdreistet hatten, das in der Provinz latent immer noch vorhandene Herr/Knecht-Verhältnis aufzuheben. Zielscheibe waren zwei Betriebsratsmitglieder persönlich und die Gewerkschaft IG CPK. Seibel setzte auf sie insgesamt vier Rechtsanwaltskanzleien mit neun Rechtsanwälten an. Ein Rechtsanwalt der Gewerkschaft beging während der langwierigen Verhandlungen Selbstmord.

Hohe Schadenersatzforderungen nach 14 Jahren

Anklagevorwürfe waren unter anderem Rädelsführerschaft und Schadenersatzansprüche für die technischen und wirtschaftlichen Schäden, die angeblich durch Streik und Besetzung entstanden sein sollten. Die wiederaufgenommenen Kündigungsklagen durchliefen insgesamt fünf Instanzen. Seibel forderte von den zwei Arbeitern und der Gewerkschaft insgesamt 17 Millionen DM Schadenersatz. Das nervenaufreibende juristische Tauziehen zog sich insgesamt über 14 Jahre lang bis 1988 hin. Letztendlich befanden die Gerichte, dass sowohl die Arbeiter mit Streik und Betriebsbesetzung als auch Seibel durch sein Verhalten gleichermaßen "schuldig" gewesen seien. Es kam zum "Vergleich": Arbeiter und Gewerkschaft mussten insgesamt 5,5 Millionen DM zahlen!

Als im Jahr 2000 zwei Jugendliche im Rahmen vom "Bundeswettbewerb Geschichte" unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Johannes Rau einen der beiden angeklagten Gewerkschafter nach 25 Jahren befragten (7), machte dieser immer noch einen bedrückten Eindruck und war verständlicherweise froh, dass diese schwere und für ihn existenzbedrohende Zeit vorbei war.

"Westfälische Rundschau" Juli 1975

 

 

In dem Schlusswort "Eigene Meinung" zieht einer der beiden Jugendlichen ein ebenso bezeichnendes wie desorientiertes Fazit: "Ich kann mittlerweile auch ein bißchen F.C. Seibel in seinem Handeln nachvollziehen, obwohl ich immer noch nicht mit seinen Entscheidungen einverstanden bin. Doch mir ist klar geworden, dass es auch für ihn, ebenso wie für die Belegschaft, eine sehr schwierige Zeit war. (...) Außerdem habe ich festgestellt, dass so ein Arbeitskampf nichts Glorreiches an sich hat, sondern nur Leid, Hilflosigkeit und Existenzangst mit sich bringt".

In dieser Äußerung zeigt sich exemplarisch, wie schnell in der BRD Erfahrungen wie Streik und Werksbesetzung in Vergessenheit geraten oder als legitime Widerstandsoption geringgeschätzt werden, weil es in dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung keine verankerte Widerstandskultur gibt.

Anmerkungen

1. Die erste Auseinandersetzung in der westfälischen Zementindustrie fand 1967 statt.

2. Claus Leggewie in "Links" Nr. 68, Juli/August 1975. Mit "Parvenue" wird oft ein "Emporkömmling" oder "unkultivierter Neureicher" bezeichnet.

3. Siehe: Broschüre "Fabrikbesetzung. Arbeitskampf der Zementwerker bei Seibel & Söhne in Erwitte" 1975, Herausgegeben von der Vertrauenskörperleitung der Belegschaft Seibel & Söhne.

4. Rainer Duhm/Erhard Maus: "Wir halten den Betrieb besetzt". In: "Krise und Gegenwehr" 1975, Rotbuch Verlag Berlin

"Westfälischer Anzeiger" vom 25. 7. 19755. Siehe: http://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/ARN/Seibel_Erwitte.shtml

6. "Politikon", Nr. 48, Juni 1975, S. 15 - 21

7. Ferdinand, Marcus/Marcus, Jan: "Arbeitskampf bei Seibel und Söhne. Erste Werksbesetzung in der Geschichte der Bundesrepublik", in: Heimatblätter 2000 (80. Jg.), S. 33. - Diese Arbeit bekam den zweiten Preis bei dem Bundeswettbewerb.

 

Erwitte BuchAnmerkung 2:
Wenige Monate nach meinem Artikel ist ein sehr interessantes Buch zur Betriebsbesetzung und zum Streik bei Seibel & Söhne erschienen:

Dieter Braeg (Hg.), Erwitte – »Wir halten den Betrieb besetzt«. Geschichte und Aktualität der ersten Betriebsbesetzung in der Bundesrepublik. Die Buchmacherei, Berlin. 17,50 Euro, 258 Seiten. Direktbezug: www.diebuchmacherei.de

Zum Verhalten der Verwaltungsstelle Hamm der IG BCE
Zum bezeichnenden Verhalten der sogenannten Gewerkschaft IG BCE sei hier aus der kurzen Schlussbemerkung des Herausgebers (Dieter Braeg) dieses Buches zitiert:
 
"Mir ist es bisher nicht gelungen, zum derzeitigen Ist-Zustand des Betriebes Seibel & Söhne eine vernünftige und schlüssige Beschreibung zu bekommen. (...) Ich habe also versucht, über schriftlichen und mündlichen Kontakt mit der zuständigen Verwaltungsstelle der IG BCE in Hamm und der Verwaltungsstelle der IG BAU in Dortmund Auskünfte zu bekommen. (...) Von beiden zuständigen Gewerkschaften bekam ich trotz mehrmaliger freundlicher Bitten, keine Auskunft. Ein Grund für diese unverständliche Haltung wurde mir natürlich nicht mitgeteilt."

Soviel zur Kooperationsbereitschaft von "Gewerkschaften" mit Projekten aus sozialen Bewegungen ...

 

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