Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 292, Oktober 2004

Widerstand gegen Hartz IV

Gewaltfrei für die Umverteilung von oben nach unten!

Viele Menschen schöpften nach den vom DGB dominierten Großdemonstrationen gegen den sozialen Kahlschlag am 3. April 2004 wieder Hoffnung, dass die Proteste von der Quantität in eine neue Qualität übergehen würden. Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Monatelang blieb es ruhig.

Die DGB-Linke benötigte viel Zeit, um überhaupt Termine zustande zu bringen, bei denen über die Perspektiven des Widerstandes diskutiert werden sollte. Doch dann kam alles anders. Es dauerte ebenfalls lange, bis die Mehrheit der betroffenen Arbeitslosen gemerkt hatte, was die Agenda 2010 bedeutet. Erst mit der Verschickung der Antragsunterlagen für die Arbeitslosenhilfe II wurde ihnen klar, dass ihnen für den Rest des Lebens Armut droht.

Auf Hunderten von Montagsdemonstrationen rebellierten sie gegen die Zumutungen von Hartz IV und straften die SPD bei den Landtags- und Kommunalwahlen ab. Als ein Höhepunkt dann noch die Großdemo in Berlin am 2. Oktober. Doch der Bundeskanzler macht es seinem Vorgänger nach und sitzt alle Proteste aus. Er wartet ab, bis das regnerisch-kalte Wetter die letzten unentwegten MontagsdemonstrantInnen resignieren lässt. Was tun wir? Schwarz sehen, schwarz arbeiten oder schwarze Fahnen schwenken? Werden wir endlich beginnen, einen libertären Oktober zu organisieren?

Neue Dimensionen des sozialen Kahlschlags

Mit dem "Antrag auf Armut" werden alle finanziellen Reserven der Arbeitslosen aufgespürt. Anschließend werden sie dazu gezwungen, diese aufzubrauchen. Mit der Folge, dass Alterssicherung und Notgroschen weg sind. Neben dem Minimalsatz von 345 Euro (Ost: 331 Euro) gibt es dann noch die Beihilfe für eine "Unterkunft" - von einer Wohnung spricht keiner mehr. Es muss jeder Job angenommen werden, und wer die aufgezwungenen "Eingliederungsvereinbarungen" nicht erfüllt, erhält kein Geld mehr.

Da es kaum noch "Normalarbeitsplätze" gibt, sollen Arbeitslose nun von den Kommunen gezwungen werden, sogenannte Arbeitsgelegenheiten für ein bis zwei Euro Stundenlohn anzunehmen. In den Medien wird es so dargestellt, dass sich die Arbeitslosen hiermit noch ein paar Euro hinzuverdienen können und für dieses großzügige Angebot auch noch dankbar zu sein hätten. Die Wirklichkeit sieht anders aus:

- Die 1-Euro-Jobs sind kein angemessener Lohn für geleistete Arbeit, sondern Lohndumping der unverschämtesten Sorte.

- Es wird mit kommunaler Hilfe ein Heer von JobberInnen im Niedrigstlohnbereich geschaffen, das gezielt gegen alle anderen Beschäftigten ausgespielt wird. Als Nächstes werden bei Normalarbeitsplätzen Lohnkürzungen und Mehrarbeit eingeführt.

- Qualifizierte Arbeitsplätze werden abgebaut und durch billige Zwangs-Jobs ersetzt!

- Es wird eine Art Zwangsarbeitsdienst eingeführt, dem sich niemand entziehen kann, und es wird einen geringeren Stundenlohn als im Gefängnis geben.

- Der Mehraufwand für zusätzliche Fahrtkosten wird nicht ersetzt, sodass am Ende nicht mehr viel zusätzliches Geld übrig bleibt.

Es ist empörend, wenn die Sozialverbände Caritas, Arbeiterwohlfahrt, das Rote Kreuz und die Diakonie jetzt Hartz IV ausnutzen, um billige Arbeitskräfte für einen Euro zu beschäftigen. Sie haben sich bereit erklärt, 600.000 solcher "Arbeitsgelegenheiten" einzurichten. Sie wollen 2005 außerdem noch über 9 Milliarden Euro Verwaltungs- und Lohnkostenzuschüsse einkassieren, um ihren eigenen Etat zu sanieren.

Im August kam es für die Arbeitslosen knüppeldick. Jeden dritten Tag wurde aus dem 16seitigen Arbeitslosenhilfe-Formular eine neue Gemeinheit bekannt. Der Höhepunkt war die geplante Streichung der Januarzahlung der Arbeitslosenhilfe für 2005, die allerdings nach einigem Hin und Her wieder zurückgenommen werden musste.

All diese Zumutungen haben dazu geführt, dass Mitte August nach einer Umfrage von "Financial Times Deutschland" 67 Prozent der Befragten die Demonstrationen gegen Hartz IV für gerechtfertigt hielten. Die Bundesregierung bemerkte die "kommunikative Katastrophe" und ging mit einer millionenschweren Kampagne in die PR-Offensive.

Der CDU, die zunächst die Empörung über den Sozialraub für ihre parteipolitischen Interessen ausnutzen wollte, wurde allmählich klar, dass sich der Unmut womöglich gegen das kapitalistische System an sich richten könnte, und ruderte zurück. Nach anfänglich ausführlicher Berichterstattung - schließlich klaffte gerade das Sommerloch - wurden in den Medien die Montagsdemos kleingerechnet und diffamiert. FernsehreporterInnen fragten ahnungslose PassantInnen nach ihren Vorstellungen, was der Ein-Euro-Jobber alles für gemeinnützige, soziale Aufgaben übernehmen könnte, und unterstellten den KritikerInnen herzlosen Egoismus. Mit diesen einfach gestrickten, aber wirkungsvollen Manipulationsmechanismen wird an der Delegitimierung der Proteste gearbeitet.

Wenige tatsächliche Verbündete

Die Montagsdemos sind an vielen Orten aus spontaner Empörung heraus entstanden. Zum organisatorischen Kern gehören Arbeitslosengruppen, Gewerkschaftsuntergliederungen, versprengte Linke und vom Sozialabbau betroffene Menschen. Diese Gruppen wurden von einigen PolitikerInnen sogar dämonisiert als "Volksfront". Tatsächlich hat diese Bewegung nur wenige Verbündete.

Der DGB-Vorsitzende Sommer warnte im Zusammenhang mit den Montagsdemos vor "Rattenfängern und Populisten". Die DGB-Zentrale konfrontierte ihre mittlerweile demonstrationswilligen örtlichen FunktionärInnen mit "Ausführungsbestimmungen für Demonstrationen mit DGB-Teilnahme". Der DGB fordert auf Bundesebene nur noch kleinere Korrekturen und biedert sich mit "konstruktiven" Gesprächen der SPD an. Diese hat sich allerdings durch ihre Politik längst von den Gewerkschaften verabschiedet. Der DGB aber nicht von der SPD. Auch die Grünen befürworten eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Sie haben die FDP als Partei der "Besserverdienenden" abgelöst, wie die WahlforscherInnen im August herausfanden. Und da das Sein das Bewusstsein bestimmt, lässt sich das Kapital nicht lumpen. Mehr als eine halbe Million Euro haben Commerzbank, DaimlerChrysler, BMW, Arbeitgeberverband Südwestmetall und Allianz in diesem Jahr für die Grünen gespendet. Bei den Sozialverbänden ist die Lage ähnlich wie bei den DGB-Gewerkschaften. Wohl gibt es in den Untergliederungen auch Proteste gegen den Sozialabbau. Gleichzeitig wollen die zentralen EntscheidungsträgerInnen der Sozialverbände von der Einführung der Ein-Euro-Jobs profitieren.

In Deutschland sind bei den Montagsdemos zwar Zehntausende auf die Straße gegangen, aber von einer wirklich breiten Massenbewegung sind wir noch weit entfernt. Das liegt auch daran, dass es etwa der Hälfte der Bevölkerung finanziell noch recht gut geht. Mittelstand, Beamte und leitende Angestellte, RentnerInnen mit hohen Pensionen, die Erbengeneration und nicht zuletzt Teile der noch gutverdienenden FacharbeiterInnen fühlen sich vorerst noch vor größeren finanziellen Einbußen sicher und denken in ihrer Mehrzahl nicht daran, sich mit den Menschen aus dem unteren Einkommensdrittel zu solidarisieren. Die Deklassierung einer ganzen Bevölkerungsschicht nehmen sie in Kauf, wenn nur sicher ist, dass es nicht sie selbst trifft. Längerfristig ist diese egoistische Annahme unrealistisch, verhindert allerdings aktuell solidarisches Handeln gegen Sozialabbau.

Aus weniger Möglichkeiten mehr machen

Die Arbeitslosen können nicht streiken, denn sie haben keine Arbeit. Sie können keine Fabriken besetzen, denn diese sind längst geschlossen. Die Möglichkeiten zu agieren sind eingeschränkt und haben ihr Ventil in den Montagsdemos gefunden. Von dort aus können noch Parteizentralen, Arbeitsämter und Rathäuser aufgesucht, belagert oder besetzt werden.

Anfang August hat Professor Grottian von der Initiative Berliner Bankenskandal dazu aufgerufen, von den "kreuzbraven" Demonstrationen zu zivilgesellschaftlichem Ungehorsam überzugehen, um die etablierten Institutionen herauszufordern. Seine Vorschläge reichten von der gewaltfreien Schließung der Arbeitsagenturen für einen Tag, über Lumpen-Demonstrationen anlässlich festlicher Ereignisse, der Lahmlegung des öffentlichen Lebens durch einen dreistündigen Bürgerstreik (Arbeit, Tätigkeiten, Dienstleistungen) bis hin zu einem Hartz-Tribunal. Dieser Aufruf war sehr wichtig, um den Blick von eingefahrenen und kalkulierbaren Demonstrationsritualen weg und hin zu kreativen und offensiveren Aktionen zu lenken.

Allerdings gibt es in Deutschland nicht gerade eine ausgeprägte Kontinuität phantasievoller sozialer Kämpfe. Eine ausgedünnte, weitgehend isolierte Linke und nur noch wenige erfahrene AktivistInnen und "TrainerInnen" werden wohl kaum in der Lage sein, auf breiter Ebene grundlegendes Wissen über Techniken und praktische Durchführung anspruchsvollerer Aktionen zu vermitteln. Offene Kommunikationsräume bereitzustellen reicht allein nicht aus, wenn die dort sich Versammelnden nicht in der Lage sind, diese kreativ und selbstbewusst zu nutzen. Viele Arbeitslose sind leider ungeübt bei der Organisierung und Formulierung ihrer Interessen. Gerade im sozialen Bereich werden wir in der Praxis vor Ort oft von vorne anfangen müssen und können nur auf ermutigende Erfahrungen in anderen Bewegungen hinweisen.

Eine bloße Fortsetzung der Montagsdemos sowie die nur einfache Aneinanderreihung von überregionalen Aktions- und Demotagen während des ganzen Herbstes lässt die AktivistInnen bald erlahmen und überfordert die SympathisantInnen. Der Kampf wird auch nach dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 weitergehen müssen.

Trotz dieser Probleme zeichnen sich auch positive Tendenzen ab. Innerhalb diverser Untergliederungen des DGB entsteht allmählich eine intensivere und selbstkritischere Debatte über Kampfformen und das Verhältnis zur SPD. In den nächsten Jahren können sich hier autonome und kämpferische Strömungen entwickeln. Durch eine qualifiziertere politische Praxis kann sich die anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen Union (FAU) in Zukunft bei einer Zuspitzung der sozialen Auseinandersetzungen besser einmischen. Zunehmend wird innerhalb der Anti-Hartz-Bündnisse die Notwendigkeit von betrieblichen Protesten bis hin zum Streik diskutiert (s. UZ vom 10. 9. 2004). Die Realisierung wird allerdings wahrscheinlich noch dauern.

Defizite hemmen möglichen Erfolg

Schwerwiegende Defizite der Anti-Hartz-Bewegung fallen immer deutlicher auf. Es fehlen einsichtige, leicht nachvollziehbare Vorschläge für eine soziale Grundsicherung und zum Abbau der Arbeitslosigkeit. "Wo haben sich eigentlich die Intellektuellen dieses Landes versteckt?

Ihre Aufgabe wäre es, die Ideologie der Herrschenden grundsätzlich anzugreifen", stellte Michael Jäger im "Freitag" fest. Bei Arbeitslosen und prekär Beschäftigten greift die Existenzangst um sich, die in der Genügsamkeit gipfelt "Hauptsache Arbeit, egal zu welchen Bedingungen". Das führt dazu, dass selbst nicht existenzsichernde, aber tarifierte "Vollarbeitsplätze" angenommen werden. Beispielsweise erhält eine ausgebildete Friseurin in Thüringen in den ersten beiden Betriebsjahren einen Tariflohn von 3,18 Euro brutto je Stunde (Neues Deutschland, 25. 8. 2004). Davon kann niemand leben. "Lohnt es sich wirklich, um die Ausbeutbarkeit zu kämpfen? Lohnt es sich zu schuften und zu buckeln, wenn weder das Geld noch der Arbeitsplatz sicher sind?" fragt zu recht Mag Wompel in der "jungen Welt" und fordert ein "Grundeinkommen für alle, statt Almosen und Zumutungen".

Die zentrale Großdemo am 2. Oktober in Berlin ist sicherlich ein wichtiges Zeichen, um im Herbst eindrucksvoll den Protest auf die Straßen zu tragen, auch wenn die Vorbereitungszeit kurz war und die DGB-Spitze ihre Beteiligung ablehnte. Demonstrationen ohne DGB-Dominanz sind ohnehin lebendiger und transportieren radikalere Forderungen. Jedoch verdeckt die Orientierung auf überregionale Großdemos ein strukturelles Defizit.

Die Montagsdemonstrationen sind ein fragiles Gebilde, das bald in sich zusammenfallen wird, wenn nicht rechtzeitig von dort aus damit begonnen wird, im Alltag verankerte lokale Widerstandsstrukturen aufzubauen. Die in scheinbar viele Partikularinteressen aufgespaltenen MontagsdemonstrantInnen müssen sich vor Ort gegenseitig intensiv austauschen, ihre Interessen bündeln, neue Verbündete suchen und einbeziehen, um eine neue Basis für die kommenden Auseinandersetzungen zu schaffen. Dies geschieht am besten in Sozialforen. Bei ihnen wird das Themenspektrum Hartz IV noch um die gesamte Palette der neoliberalen Offensive erweitert, und es findet eine Verknüpfung mit den internationalen Kämpfen der Antiglobalisierungsbewegung statt. Die Tatsache, dass es im September an über 250 Orten Montagsdemonstrationen gab, aber nur in etwa jeder zehnten Montagsdemo-Stadt ein Sozialforum besteht, zeigt das aktuelle Missverhältnis zwischen spontaner Rebellion einerseits und einer breiter verankerten Widerstandskultur andererseits.

Wenn ab dem 14. Oktober das Europäische Sozialforum mit Zehntausenden TeilnehmerInnen in London tagt und sich im nächsten Jahr das deutsche Sozialforum in Erfurt als überregionales Netzwerk konstituiert, wird dieser Politikansatz wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten.

Die erste Welle der großen Empörung über die immer stärkere kapitalistische Deregulierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in diesem Jahrtausend hat zwar in Ansätzen gezeigt, wozu eine Massenbewegung fähig wäre. Allerdings sind die meisten Menschen in diesem Land noch zu sehr damit beschäftigt, sich von den gleichermaßen eingefahrenen wie gescheiterten Vorstellungen der konventionellen Stellvertreterpolitik im Rahmen von SPD und DGB zu verabschieden und dies gedanklich zu verarbeiten. Grundlegende Erfahrungen der Selbstorganisation und der eigenen Interessenwahrnehmung müssen sie sich erst wieder in einem mühsamen Prozess aneignen. Alternative Widerstandsstrukturen sind erst langsam im Aufbau begriffen. Wichtig ist es, bei der zweiten Welle, die bald kommen wird, besser vorbereitet zu sein.

 

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