Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 501, September 2025
Klimaklage gegen RWE: Ist die Niederlage ein Sieg?
Die Klage des peruanischen Andenbauers Saúl Luciano Lliuya gegen den Energiekonzern RWE vor dem Oberlandesgericht Hamm hat 2025 weltweit für große Aufmerksamkeit gesorgt, weil er zu einem Präzedenzfall für 60 weitere Klimaklagen werden könnte, bei dem Unternehmen für ihre Taten verantwortlich gemacht werden sollen.
Der Gletschersee Palcacocha liegt oberhalb der Andenstadt Huaraz. Dort ist die durch die globale Erwärmung ausgelöste Gletscherschmelze stark angewachsen. Große Eisblöcke könnten sich aus dem Gebirge lösen, in den See fallen und eine meterhohe Flutwelle verursachen. Dies hätte verheerende Folgen für die Stadt Huaraz mit ihren 50.000 EinwohnerInnen. Der See wird durch einen stark unter Druck stehenden Deich gerade noch zurückgehalten. Allein seit 1970 ist der See um das 34fache angewachsen (1). Die Situation im umliegenden Gebirge und am See muss von GletscherwächterInnen permanent durch ein umfangreiches Messsystem kontrolliert werden, um die Menschen in kritischen Situationen warnen zu können. Um überschüssiges Wasser abzupumpen und den Wasserpegel des Sees zu senken, wurden provisorische Schläuche in den See gelegt. Der Palcacocha-See ist einer von 35 Seen in der Cordillera Blanca, bei denen die Lage kritisch ist.
RWE geht es gut, der Welt schlecht
Die letzten Jahrzehnte hat der Konzern RWE mit seiner klimaschädlichen Energieerzeugung Milliardengewinne eingefahren. RWE ist der größte CO₂-Emittent Europas und für fast 0,5 Prozent aller globalen, menschengemachten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Darüber hinaus missachtet das Unternehmen die Rechte von Indigenen, indem es sich bei der Produktion von angeblich „grünem Wasserstoff“ am Klimakolonialismus und an Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des globalen Südens beteiligt.
Die Klage
Als 2014 in Lima die jährlich stattfindende Weltklimakonferenz stattfand, trat Lliuya an die dort teilnehmende Nichtregierungsorganisation Germanwatch heran und diskutierte mit ihr die Möglichkeit einer Musterklage gegen große MitverursacherInnen des Klimawandels. Nach Beratung mit der deutschen Rechtsanwältin Roda Verheyen wurde im Dezember 2015 die Klage gegen RWE beim Landgericht Essen eingereicht.
Lliuya fordert von RWE, sich finanziell an dem Bau eines großen Damms am See und an Schutzmaßnahmen an seinem Haus zu beteiligen und dass der Konzern rund 0,5 Prozent der notwendigen Maßnahmen zahlt. Grundsätzlich geht es darum, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf dem sich weltweit andere vom Klimawandel Betroffene berufen können. Zur Anwendung kam der Paragraph 1004 bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, nur dass es sich in diesem Fall um ein globales Nachbarschaftsverhältnis über 10.000 km hinweg handelt.
Die Klage wurde 2015 in Essen, dem Hauptsitz des Konzerns, eingereicht. RWE bestritt die Verantwortung für Klimaschäden in den Anden. 2016 wies das Landgericht Essen die Klage ab.
Neuer Versuch
Daraufhin legt 2017 Lliuya Berufung gegen die Entscheidung des Landgerichts Essen beim Oberlandesgericht Hamm ein. Dort wurde 2018 in der mündlichen Verhandlung vom Gericht grundsätzlich bestätigt, dass Klimaschäden eine Unternehmenshaftung begründen und Betroffene unterstützt werden müssen. Dieses Urteil war eine Sensation und wurde weltweit stark beachtet und von Germanwatch euphorisch gefeiert.
Nun wurden zwei Sachverständige bestellt, die in einem Gutachten klären sollten, ob tatsächlich das Hausgrundstück des Klägers beeinträchtigt würde. Beim Staat Peru wurde 2019 vom Gericht die Erlaubnis bewirkt, die Örtlichkeiten in Augenschein nehmen zu dürfen. Aufgrund der Corona-Pandemie verzögerte sich die Reise von Richter, RechtsvertreterInnen der Prozessbeteiligten und der Gutachter bis zum Jahr 2022. Somit wurde die Klage in Peru zu einem beachteten Thema.
Für Irritationen sorgte, dass das vom Gericht in Auftrag gegebene angeblich unabhängige Gutachten, mitsamt Vorarbeiten von RWE, mit rund 100.000 Euro finanziert worden ist. Wissenschaftler der RWTH Aachen wirkten hier mit. „Einer davon begleitet allerdings als Sachverständiger für RWE den Prozess – laut SourceMaterial für einen Stundensatz von 120 Euro. Von RWE finanzierte Vorarbeiten wie der Erwerb und die Analyse der Gletscherdaten hätten, so sagen es RWE und die Autoren, keinen Einfluss auf die Studie an sich gehabt, die unabhängig entstanden und nicht von RWE beauftragt worden sei“ (2).
Kosten
Spätestens jetzt muss über die immensen Kosten dieses Prozesses gesprochen werden. Sie liegen über 800.000 Euro, die vom Kläger bezahlt werden müssen. Im Jahre 1997 haben Mitglieder und FreundInnen von Germanwatch die Stiftung Zukunftsfähigkeit gegründet, zu der ab 2005 die Klimaschutzinitiative atmosfair und die Klaus-Töpfer-Stiftung gehören. Zusätzlich hat die in den Niederlanden ansässige FILE-Foundation, der auch Erbschaften zufließen, mehrere hunderttausend Euro der Stiftung Zukunft zur Verfügung gestellt (3). Mit Hilfe dieser Stiftungen wurde seit Jahren auf diesen Prozess hingearbeitet, um die Gerichtskosten für Lliuya zu übernehmen.
Nachdem 2023 der gerichtliche Gutachter sein Gutachten vorgelegt hat, kam es nach längeren Verzögerungen am 17. und 19. März 2025 zur mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht, zu der Lliuya als Kläger nach Hamm anreiste.
Mobilisierung
Seit dem ersten Prozess 2018 in Hamm wurde die Klimaklage vom Forum für Umwelt und Gerechtigkeit (FUgE), dem über 50 Organisationen aus Hamm angehören, durch Veranstaltungen und eigene Publikationen unterstützt. Bereits 2023 haben zwei Hammer Bürger privat Lliuya in Peru besucht und über die Situation in Huaraz berichtet. In Hamburg und Berlin organisierte Germanwatch in den Tagen vor dem Prozess Veranstaltungen mit Lliuya und präsentierte in Münster eine Fotoausstellung über die Situation vor Ort.
Mit Hilfe von FUgE wurden in der Nähe des Oberlandesgerichts größere öffentlich Räume für anreisende AktivistInnen und BeobachterInnen zur Verfügung gestellt und betreut. Am Abend fand in einem Saal in der VHS eine Veranstaltung statt, auf der, zusammen mit der Rechtsanwältin und Germanwatch, Verlauf und Zwischenergebnisse des Prozesses diskutiert wurden.
Am Prozesstag stellten Hammer AktivistInnen die von Germanwatch besorgten Tafeln mit Bildern von schmelzenden Gletschern auf und hielten Transparente hoch. Obwohl vor Ort in der Lokalpresse und durch Massenmails gut mobilisiert wurde, beteiligten sich aus Hamm nur zwei Dutzend und aus weiter entfernten Gegenden noch weniger Menschen an dieser Aktion; ParteienvertreterInnen kamen nicht. Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass montagmorgens ab 8.30 Uhr der Termin für den Gerichtstermin ungünstig lag. Mit Mühe konnten die Tafeln hochgehalten werden, um für die zahlreichen angereisten JournalistInnen Bilder zu liefern.
Problematisch fand ich, dass Germanwatch auf die Initiative der KlimaaktivistInnen, eigene Aktivitäten durchzuführen, distanziert reagierte. Offensichtlich befürchteten sie radikalere Aktionen, die ihre eigene Seriosität in Frage stellen könnten. Diese Befürchtungen waren unbegründet; die Fridays-for-Future-AktivistInnen malten friedlich mit Kreide auf dem Fußboden. Der Westfälische Anzeiger titelte: „Rahmenprogramm zum Klima-Prozess im OLG nur spärlich besucht“.
Unterdessen wurde im Prozessverlauf die komplexe Materie bis ins letzte Detail verhandelt. Die gerichtlichen Sachverständigen schätzten die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gletscherflut innerhalb von 30 Jahren das Haus von Lliuya erreichen würde, auf ein Prozent ein. Die Klägerseite zweifelte die Kompetenz des Sachverständigen an und betonte, dass er die Gefahr eines Gletscherabbruchs durch das Schmelzen des durch Permafrost zusammengehaltenen Gesteinsgemenge nicht ausreichend beachten würde und legte eigene Gutachten vor. Es zeichnete sich ab, dass der Richter dem Gerichtsgutachter zustimmte. Dies führte bei der abendlichen öffentlichen Diskussion bei den fünfzig TeilnehmerInnen zur Ernüchterung.
Die weltweite Medienresonanz war enorm. Viele Tageszeitungen berichteten ausführlich und mit Bildern über den Prozess. Da das Gericht zu erkennen gab, dass große Emittenten grundsätzlich für die Folgen des Klimawandels zur Verantwortung gezogen werden können, betonten die Rechtsanwältin Verheyen und Germanwatch erfreut den jetzt schon errungenen Teilerfolg. Hier wurde Rechtsgeschichte geschrieben, der sich auf die zukünftigen Klimaklagen auswirken würde. Die letztendliche Verkündigung des Urteils erfolgte am 28. Mai 2025. Das breite Medienecho war sich in der Bewertung des Prozesses uneinig.
Erfolgreich gescheitert?
Bei der Einschätzung dieses Falles werden in der juristischen Fachpresse unterschiedliche Akzente gesetzt. Beck-aktuell schreibt: „Es bleibt spannend, wann ein ähnlich gelagerter Fall seinen Weg vor den BGH findet. Denn dass sich andere Obergerichte und der BGH der aufsehenerregenden Meinung des OLG Hamm anschließen, ist nicht gesagt.“ (4) Legal Tribune Online (LTO) sieht die Möglichkeiten zukünftiger Klagen positiv, betont aber den zeitlich ausufernden Rahmen: „Der Klage sei ein winziges Detail zum Verhängnis geworden – aber Details ließen sich ändern. 'Hätte nicht Lliuya geklagt, sondern ein Nachbar mit einem flussnäheren Grundstück, hätten die Sachverständigen das Überflutungsrisiko wahrscheinlich deutlich höher bewertet und das OLG Hamm auf eine drohende Beeinträchtigung erkannt’, so der Experte für Klimahaftung. (...) Roda Verheyen hat aber bereits weitere Mandanten in Huaraz und auch in Nepal. Weitere Klagen könnten daher folgen’. Der Richter selbst betont: 'Das Verfahren fordert nicht zur Nachahmung auf und wird wahrscheinlich, zumindest zu meinen Lebzeiten, das einzige seiner Art bleiben', sagt er bei der Urteilsverkündung.“ (5)
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieses OLG-Urteil zwar keine direkte Bindungswirkung für andere Gerichte enthält, aber ein deutliches Signal setzt und für die Zukunft neue juristische Möglichkeiten eröffnet. Allerdings haben wir bei der rasanten Zuspitzung der Klimakrise in Zukunft nicht mehr die Zeit, um über zehn Jahre hinweg Prozesse zu führen, weil viel schneller einschneidende Maßnahmen ergriffen und erkämpft werden müssen. Zudem sollte bedacht werden, dass allein dieser Prozess mindestens 800.000 Euro gekostet hat und die begrenzten Ressourcen der Klimabewegung in andere Aktivitäten möglicherweise besser eingesetzt werden könnten.
Aus dem Blick geraten sollte nicht, dass allzu oft Gerichte im Sinne der Herrschenden Rechtsprechen, also der Spielraum für soziale Bewegungen begrenzt ist. Es ist nicht ausgemacht, dass in Zukunft in der BRD nicht ähnliche negative Entwicklungen wie in den USA unter Trump oder Ungarn unter Orbán stattfinden werden.
Wen erreichen wir?
„Wenn in Peru etwas kaputtgeht, warum sollen wir hier dafür zahlen?“ – das war eine Frage, die mir beim Flyerverteilen von einem Passanten gestellt wurde. Die in antisozialen Hetzmedien verbreitete Meldung, dass Peru viele Millionen Euro von der BRD für Fahrradwege bereitgestellt würden, schwingt hier mit und zeigt, dass noch viel Bildungsarbeit vor uns liegt. Die Zeitungsberichte über den Prozess haben vielleicht zu einem höheren Problembewusstsein bei den LeserInnen beigetragen. Der Kläger und sein Umfeld wirkten sympathisch. Zugleich wurden Verursacher konkret benannt und Forderungen adressiert. Klimaklagen können eine mediale Kontinuität aufrechterhalten, wenn Aktionen der Klimabewegung abflauen und zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugen. Wir erreichen damit aber nur noch einen bestimmten Teil der Menschen. Denn wer liest heutzutage noch Zeitungen?
Wichtig wäre in Zukunft eine stärkere Verzahnung von Bewegungsaktivitäten und Klagen, um mehr Menschen zu erreichen. Auf Klagen sollten wir uns nicht verlassen. Sie sind kein Allheilmittel. Als ergänzendes Instrument des politischen Kampfes sind sie geeignet, zusätzlichen Druck aufzubauen und der Klimabewegung Legitimität in der Öffentlichkeit zu verleihen.
Übrigens engagierte sich Gandhi über zwanzig Jahre hinweg als Rechtsanwalt gegen Unrecht und ging immer mehr dazu über, erfolgreichere gewaltfreie Aktionsformen anzuwenden.
Anmerkungen
1) Siehe: https://rwe.climatecase.org/de/hintergrund




2018: Die Sensation ist perfekt. Das Oberlandesgericht Hamm lässt die Klimaklage zu:

